Welches Buch nimmt dich auf die intensivste innere Reise mit?

Bei Durchsicht meines Bücherregals bin ich beim "Gott der kleinen Dinge" von Arundhati Roy hängen geblieben: der Geschichte von Zwillingsgeschwistern aus einer Mittelstandsfamilie im südindischen Kerala, die viele soziale Grossthemen in Indien ausleuchtet. Ich hatte das Gefühl, einen kleinen, aber unglaublich interessanten Einblick in eine Gesellschaft bekommen zu haben, die mir fremd und extrem komplex ist. Roy hat mich auch später immer mal wieder beeindruckt, als Aktivistin, als Schriftstellerin. Sie hat sich mit bewundernswerter Selbstverständlichkeit als Frau exponiert, positioniert, politisch engagiert, und Verbindungen zwischen Menschenrechten, Umwelt, Globalisierungs- und Nationalismuskritik gemacht – alles Themen, die mir sehr wichtig sind. 

Wie hat sich bei dir diese Verbindung ergeben?

Prägend war vielleicht, dass ich nach dem frühen Tod meines Vaters in einem Frauenhaushalt aufgewachsen bin. Meine Grossmutter und meine Mutter waren sehr unabhängige und selbständige Frauen. Politisiert wurde ich dann während meines Studiums an der Dolmetscherschule in Genf, das war die hohe Zeit der Friedensbewegung. So kam ich über den Friedensrat zur feministischen Friedensorganisation cfd. Engagiert war ich auch bei der Frauenliste FraP! in Zürich, unter anderem in der Begleitgruppe der damaligen FraP!-Nationalrätin Christine Goll. Ich begann mich zunehmend für die Hebel der Politik zu interessieren. Ab 1996 arbeitete ich acht Jahre lang im Zürcher Gleichstellungsbüro und machte berufsbegleitend den Master in European Studies mit einer Abschlussarbeit zu Gender Mainstreaming. Später absolvierte ich noch die NPO-Managementausbildung. Das ebnete den Weg für mein zwölfjähriges Engagement als Kampagnenleiterin und Kommunikationschefin bei Amnesty International. Der rote Faden meines Lebens, so würde ich mit annähernd 60 Jahren sagen, ist das Engagement: es ist zum Beruf geworden, und immer war da die Verbindung zwischen Friedenspolitik, antimilitaristischer Politik, Frauenrechten, Frauenpolitik, Feminismus, Menschenrechten …

… und seit 2017 die Umweltpolitik. Wie passt das?

Ich leite bei Pro Natura die Abteilung Politik und internationales – das sagt schon vieles, oder? Nebst dem Engagement für den politischen Naturschutz in der Schweiz sind wir auch Teil des Netzwerks Friends of the Earth, mit Mitgliedern aus allen Kontinenten. Vor allem für unsere Partnerorganisationen im globalen Süden ist klar, dass das Engagement für soziale Gerechtigkeit und für Natur- und Umweltschutz zusammengehören. Dabei hat mich schwer beeindruckt, wie sich die Menschen etwa in Nigeria oder Sri Lanka oder Brasilien für die Umwelt einsetzen und oft viel riskieren. Das geht immer Hand in Hand mit den Rechten der Indigenen und mit Konsumkritik und Globalisierungskritik. Es hat für mich einen hohen Wert, dass wir Teil dieses Netzwerks sind. 

Was heisst für dich fair unterwegs sein?

Respekt für die Menschen, die Gesellschaft, die Natur, die Umwelt. Es heisst sich zu fragen: Was brauche ich für Ressourcen, wenn ich unterwegs bin? Wie begegne ich Menschen? Nehme ich wahr, was ihre Rolle im touristischen Umfeld ist, in dem ich mich gerade befinde? Wie steht es um ihre Löhne und Arbeitsbedingungen? Nützt die Infrastruktur, die ich nutze, auch den Menschen vor Ort oder nur uns TouristInnen und denen, die an unseren Reisen verdienen – das sind ja meistens nicht so sehr die Einheimischen…

Ich war und bin nicht so viel international unterwegs, wie manche meinen, wenn sie Amnesty international oder Friends of the Earth hören. Meine längste Reise machte ich erst mit 56, als ich einen langjährigen Wunsch verwirklichte: Einmal ein lateinamerikanischen Land kennen- und dabei grad noch Spanisch zu lernen. Für zwei Wochen oder so würde ich keine solche Fernreise machen, darum leistete ich mir ein kleines Sabbatical und reservierte drei Monate für Lateinamerika. Ich entschied mich für Bolivien – wegen der sozialen und politischen Situation, die mich interessierte, und wegen dem gut verständlichen Spanisch. Was die Politik angeht, war ich bald sehr ernüchtert, traf ich doch kaum jemanden, der noch von Evo Morales überzeugt war, nicht einmal unter Indigenas. Aber tolle Menschen habe ich viele kennengelernt, angefangen bei meiner Gastfamilie in Sucre, aber auch über Frauenprojekte und in einer Agentur für sanften Tourismus, wo ich mich als Freiwillige engagierte. So hatte ich bald schon ein kleines soziales Netz.  

Und wie hast du den Tourismus dort erlebt?

Die Trekking-Agentur in Sucre war eine schöne Erfahrung: Gegründet hatte sie ein Australier, aber die Mitarbeitenden waren BolivianerInnen. Sie war gemeinnützig und mit der Lokalbevölkerung gut verbunden. Die Gewinne wurden zum Beispiel in Kinderheime oder in ein Kleinprojekt für biologische Landwirtschaft investiert; auf den  Wanderungen übernachtete man in Hütten, die von Einheimischen gebaut und geführt wurden. 

Kritischer erlebte ich den Tourismus, als ich dann noch einen Monat lang mit meiner Partnerin durch Bolivien und Peru reiste. Zum Beispiel auf einem Ausflug von Cusco zum "Regenbogenberg", einem als Alternative zum Machu Picchu propagierten neuen Ausflugsziel. Es war landschaftlich extrem eindrücklich, aber schon damals waren nebst unserer Kleingruppe gleichzeitig etwa 60 Personen unterwegs. Heute sind es offenbar täglich mehrere Hundert. Nach drei Stunden Anfahrt im Kleinbus gab es Frühstück in einem Haus, das ein Einheimischer hierfür umgebaut und mit zwei WCs ausgestattet hatte. Danach wanderten wir das Tal hinauf, auf über 5’000 Metern Höhe. Weniger Ausdauernde konnten Maulesel mieten, andere Indigenas boten entlang des Wegs Softdrinks an. Ich fragte mich, was ein solches Tourismusangebot für die Bevölkerung bedeutet: Einer konnte das Frühstücksangebot an sich reissen, die Agentur, die Busgesellschaft und die Maultierbesitzenden machten Geschäfte. Die schmale Strasse hingegen wird sicher von Steuergeldern finanziert und muss bald ausgebessert werden bei täglich fünf oder mehr Bussen. Früher hatten die Einheimischen vielleicht als Kleinbauern ein Einkommen, jetzt verkaufen sie Getränke für etwas Geld – und möglicherweise ist es das Ende ihrer angestammten Lebensweise. Ich finde mich nicht oft in der Rolle der Massentouristin, es hat mich sehr beschäftigt.

Meistens bin ich in Europa oder in den Schweizer Bergen unterwegs, auch als SAC Tourenleiterin. Aber die gleichen Kriterien fürs fair unterwegs sein gelten für mich auch hier.

Also wenden wir uns der schönen, ländlich und landwirtschaftlich geprägten Schweiz zu: Da bringt Pro Natura jetzt gleich mit zwei Volksinitiativen – der Biodiversitätsinitiative und der Landschaftsinitiative – die Bauern in Bedrängnis.

Es geht in erster Linie darum, Flächen zu erhalten, auf denen Biodiversität gedeihen kann. Biodiversität ist ja nicht nur Artenvielfalt, sondern auch Vielfalt der Lebensräume. Und diese schwindet in der Schweiz rasant, nicht nur wegen der Landwirtschaft. Auch der Tourismus verbraucht Flächen, macht Lichtverschmutzung, braucht Wasser und Strom, baut Strassen und Seilbahnen. Das sind Elemente der Zerstörung von Natur und Landschaft. Mit der Landschaftsinitiative möchten wir das Bauen ausserhalb der Bauzonen stoppen. Es wird ja in der letzten Zeit fast gleich viel ausserhalb der Bauzone wie innerhalb gebaut, womit viel Fläche verlorengeht. Das hat damit zu tun, dass es immer mehr Ausnahmen gibt – gerade für den Tourismus. Zum Beispiel für Pferdefarmen oder Streichelzoos.  

Aber das sind doch genau die Angebote, mit denen die Bauern jetzt innovativ sein möchten.

Klar, aber baut der Bauer die Scheune zur Kneipe um, brennt dort Licht bis spät in die Nacht und stört die Tiere, nimmt der Verkehr zu, müssen Parkplätze zubetoniert und Zufahrtsstrasse geteert werden, weil es ja auf dem Land liegt und man darum mit dem Auto hinfährt. Wenn Maiensässe zu Ferienhäuschen umgebaut werden, kommt meist ebenfalls diverse Infrastruktur hinzu. Wir fordern, dass die Zahl der Gebäude und die verbauten Flächen nicht mehr zunehmen. Das heisst, es muss zugunsten der ökologischen Infrastruktur auch mehr abgerissen werden. Eine unverbaute Fläche hier und da reicht nicht, sie müssen verbunden sein, damit Tiere laufen und Pflanzen sich verbreiten können. 

Die Biodiversitätsinitiative will verhindern, dass dem Tourismus und der Landwirtschaft noch mehr geschützte oder schutzwürdige Flächen und Gebiete geopfert werden. Das Gros der Flächen, die wir heute sehen, sind grün und gelb – Gras und Löwenzahn. Für mehr Biodiversität braucht es mehr geschützte Flächen und mehr Geld. Die Biodiversitätsinitiative will, was heute schon im Natur- und Heimatschutzgesetz steht, in der Verfassung verankern. Das Jahr 2020 ist nicht nur national, sondern auch global ein entscheidendes Jahr für die Biodiversität: Mit einem neuen Internationalen Abkommen sollen die Weichen neu auf einen wirksameren Schutz der Biodiversität gestellt werden.

Welche Art von Tourismus würdest du denn noch gutheissen – immerhin ist er ein wichtiger Wirtschaftszweig der Schweiz.

Ich glaube einfach nicht, dass Skigebiete mit Ratrac-Pistenfahrzeugen, die den Boden verdichten, Schneekanonen, die den Wasserhaushalt in diesen Gebieten verändern, und die Störung von Wildtieren wirklich kompatibel sind mit dem, was wir tun müssen, um den bedrohlichen Artenverlust zu stoppen. Wir sind zu viele Menschen mit zu vielen Ansprüchen an Selbstbedienung in der Natur, und ich glaube, da müssen wir bescheidener werden. Die ganze Bequemlichkeit müsste abgebaut werden. Wer den Berg runter will, soll auch raufgehen. In der nächsten Zeit werden wir uns stärker mit dem Konzept der Suffizienz beschäftigen, mit der Frage, wie wenig ausreicht, um glücklich zu sein.

Aber auch wir sind natürlich ständig mit dem Widerspruch konfrontiert: Suchen wir nach strukturellen Lösungen, sagen wir "Das geht so nicht und muss verboten oder eingeschränkt werden". Stehe ich aber vor der Bäuerin, die noch ein bisschen was dazuzuverdienen möchte, oder dem Besitzer eines kleinen B&B auf der Alp, habe ich auch ein bisschen eine andere Sicht der Dinge. Es ist wohl die Herausforderung der Politik, nicht den Einzelfall, sondern das Gesamtinteresse im Blick zu behalten.   

Wir versuchen ja bei Fair unterwegs eine ressourcenleichtere Art des Reisens beliebt zu machen mit weniger Mobilität, den Weg als Ziel zu geniessen statt irgendwohin zu jetten und von dort Ausflüge zu unternehmen. Wie gefällt dir fairunterwegs.org?

Ich finde das Portal sehr gut gemacht. Es bietet eine unglaubliche Vielfalt. Es ist attraktiv, mit schönen Bildern, womit einem die Lust am Reisen nicht vergällt wird. Es ist wichtig, dass die Aufforderung, fair unterwegs zu sein, nicht moralisierend daherkommt. Mir gefallen die Tipps, sie sind aktuell. Das habe ich gemerkt, als ich mich vor meiner Bolivien-Reise genauer informieren wollte: Man findet, was man braucht, auch politische Artikel über das Land. Das finde ich gut – und auch, dass manche Hinweise mal mit einem Augenzwinkern daherkommen.

Arundhati Roy: Der Gott der kleinen Dinge. Aus dem Englischen von Anette Grube. Fischer Taschenbuch, Frankfurt a.M. 2017, 448 Seiten, CHF 14.90, EUR 10.00, ISBN 978-3-596-29952-2

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