Fair unterwegs mit Sylvia Frey, Beschützerin des Ozeans und seiner Lebewesen
Basel, 29.01.2014, akte/
Welches Buch führt dich auf die intensivste Reise?
Da fallen mir gleich zwei ein. Das eine, das mir persönlich sehr gefällt und das ich immer wieder gelesen habe, ist "Novecento" von Alessandro Barrico. Das Buch wurde auch unter dem Titel "Die Legende vom Ozeanpianisten" verfilmt, aber der Film entspricht nicht ganz dem Buch, es wurde noch mit einer Liebesgeschichte angereichert. Das Buch handelt von einem Baby, das im Jahr 1900 auf dem Atlantikschiff "Virginian" vom Maschinisten Danny Boodmann in einer Zitronenkiste mit der Aufschrift TD Lemon gefunden wird. Boodman zieht das Kind auf, bis er acht Jahre später tödlich verunfallt. Der Junge, dem Boodmann den Namen Danny Boodmann TD Lemon Novecento gab, ist nach dem Tod seines Ziehvaters auf dem Schiff nicht länger willkommen, der Kapitän will, dass er an Land geht. Als die Virginian den nächsten Hafen anläuft, ist Novecento jedoch nirgends zu finden, die Crew vermutet, er sei über Bord gegangen.
Doch später, als die Virginian wieder weit aufs Meer ausgelaufen ist, hören die Matrosen den Jungen Klavier spielen und sind erstaunt, denn sie wussten nichts über seine Gabe. Novecento unterhält fortan die Gäste der Virginian mit seiner Musik. Der fiktive Erzähler ist der Trompeter Tim Tooney, der im Bordorchester angestellt wird, sich mit Novecento befreundet und sechs Jahre mit ihm musiziert. Er nennt Novecento "Die Legende vom Ozeanpianisten", den besten Pianisten der Welt und ist überzeugt, Novecento könnte viel Geld, ein Haus mit Familie haben, wenn er nur das Schiff verlassen und an Land gehen würde. Ein einziges Mal lässt sich Novecento dazu bewegen, wagt einen, zwei, drei Schritte den Schiffssteg hinunter – aber er kehrt zum Schiff zurück. Viel später erst erklärt er warum: Er sah kein Ende des Landes, die Vielfalt der Möglichkeiten lähmten ihn, raubten ihm seine Fantasie und seine Musik. Er nährte seinen Geist mit den Erzählungen der Schiffspassagiere und konnte unendlich viele Welten und Szenen in sich aufleben lassen. Er konnte beispielsweise detailliert über Paris und seine Sehenswürdigkeiten Bescheid geben, obwohl er nie selbst da war. Und er fand: Besser innen drin unendlich sein als in der Unendlichkeit draussen verloren. Novecento spricht nicht viel, aber was er sagt, klingt tiefgründig und fein und die Zuhörer können sich den Sinn zusammenreimen. Einmal will sich der berühmteste Jazzpianist mit Novecento messen und bucht eine Reise auf der Virginian, da Novecento ja nie an Land geht und auch im Hafen niemals spielt. Zu erleben, dass Novecento besser ist, weil er den ganzen Ozean in seine Musik hinein nimmt und so eine ganz eigene schöne Atmosphäre erschafft, verstört den eitlen Jazzpianisten.
Die Erzählung ist nur etwa siebzig Seiten lang und eigentlich als Theaterstück geschrieben. Die Regieanweisungen sind im Buch enthalten und schaffen eine ganz spezielle Atmosphäre. Die siebzig Seiten lassen Raum für die eigene Fantasie. Es ist eine sehr poetische Geschichte.
Und das zweite Buch?
Das zweite Buch bin ich gerade noch am Lesen. Es wurde von der Quallenforscherin Lisa-ann Gershwin geschrieben und heisst "Stung!". Es handelt von der gefährlich wachsenden Anzahl Quallen in den Ozeanen und den Gründen dafür. Quallen sind schön anzusehen und leben bereits seit über 500 Millionen Jahren in den Ozeanen, ohne das biologische Gleichgewicht zu stören. Heute jedoch vermehren sie sich unkontrolliert und nehmen verschiedenste marine Lebensräume in Beschlag. Die Autorin zeigt, dass der aktuelle Quallenboom in den Weltmeeren dadurch verursacht wird, dass wir die Meere leerfischen und Quallen keine Feinde wie Schwertfisch, Thunfisch und Meeresschildkröten mehr haben. Auch kleinere Fischarten, wie beispielsweise Heringe oder Sardellen, fischen wir in zu grossen Mengen. Dies führt dazu, dass immer weniger Lebewesen da sind, welche Quallenlarven fressen. Das heisst, Quallen können sich unkontrolliert vermehren und "ihr Tisch" ist gar noch reichlich gedeckt, da die Nahrungskonkurrenz um Fischlarven durch die Überfischung stets geringer wird. Diese ökologische Negativspirale wird verschärft, weil Quallen Fischlarven verspeisen und ein Nachwachsen der Fische verunmöglichen, sobald sie Überhand nehmen.
Quallen tolerieren auch die Erwärmung und Versauerung der Ozeane, die insbesondere durch den enormen Ausstoss von CO2 durch den Menschen verursacht werden, besser als praktisch alle anderen Organismengruppen. Nicht einmal die Verschmutzung der Meere kann den ästhetisch treibenden Tieren viel anhaben. Sie sind quasi resistent.
Vielerorts ziehen Fischer Netze voller Quallen an Bord, was sogar schon Fischerboote zum Kentern brachte – kein Wunder, wenn man bedenkt, dass die schwersten Quallen über 200 Kilogramm wiegen können. Grosse Quallenansammlungen haben auch schon Elektrizitätskraftwerke lahmgelegt, indem sie den Wasserzulauf der Kühlsysteme verstopften. Quallen bewegen sich in horizontaler Richtung mit der Strömung, sie können nicht gegen den Strom schwimmen. Deshalb kommen sie auch zumeist in grossen Ansammlungen vor. Diese glibberigen Tiere, welche zu über 90 Prozent aus Wasser bestehen, können für ein Ökosystem tödlich sein. So manche Art wurde bereits im Ballastwasser von Schiffen in neue Gebiete verfrachtet und breitete sich dort schnell aus. Eines der eindrücklichen Beispiele, welche Gershwin beschreibt, ist das Schwarze Meer. In den 1980er Jahren begann sich eine invasive Quallenart im Schwarzen Meer auszubreiten und zwar so stark, dass die Bestände von Stör und Sardelle vollkommen einbrachen.
Gershwin führt uns in ihrem Buch in eine erstaunliche und erschreckende Welt. Ich finde es wichtig, dass über die Invasion der Quallen und deren Gründe so klar und verständlich geschrieben wird, denn viele Menschen haben noch keine Ahnung davon. Mir persönlich zeigt dieses Buch erneut, dass wir konsequent und schnell handeln müssen, um die Artenvielfalt und die Vitalität der Ozeane zu schützen.
Was ist der Ozean für dich?
Es ist eine faszinierende und sich stets wandelnde Welt, in die ich als Mensch und damit "Landtier" nicht wirklich gehöre.
Aber aus Sicht der Evolutionsforscher kommen wir aus dem Ozean.
Wir entstammen ihm ursprünglich und es ist ein Lebensraum, der uns immer wieder anzieht. Aber wir sind von unserer Biologie her nicht fähig im Ozean zu leben. Für mich ist der Ozean die Wiege allen Lebens. So vieles von ihm kennen wir noch nicht, er ist derart gigantisch.
Also hat er für dich auch etwas Poetisches?
Ja auf jeden Fall. Es ist sein Wesen. Er kann so sanft sein, so anziehend mit seiner Ruhe. Doch sehr schnell kann er sich ändern und gefährlich werden. Die Kraft, der Sturm ist wie das Gesicht, das sich ändert.
Die Empfindung des Ozeans als etwas Wesenhaftes: Widerspricht das nicht deinem Blick als Wissenschaftlerin?
Man kann sich dem Ozean auf verschiedene Arten nähern. Die Wissenschaft gibt mir die Möglichkeit, den Ozean besser zu verstehen. Immer wieder entdecken wir Neues, er ist eine unerschöpfliche Quelle der Erkenntnis. Viele der darin lebenden Wesen sind der Ausbeutung unterworfen und müssen kompensieren, was wir verschmutzen. Alle negativen Folgen haben der Ozean und seine Lebewesen zu tragen: Klima, Abfall, Fischerei, wenn wir Schadstoffe in die Luft lassen – die Ozeane sind jedoch endlich und ihre Tragkraft auch. Die Ozeane sind zentral für das Leben auf unserem Planeten – nimmt ihre Vitalität ab, so leidet das ganze System, letztlich auch wir. Das zu verstehen ist elementar für die Zukunft.
Hast du das Gefühl, dass die Menschen den Ozean zu wenig wahrnehmen?
Für viele ist der Ozean nur mit Ferien verbunden, er wird als Ferienressource konsumiert. Für die Küstenländer ist er auch eine wichtige Nahrungsressource. Für viele Menschen ist der Ozean nicht mehr als das. Vielen ist nicht bewusst: Wenn es dem Ozean schlecht geht, wird es auch uns schlecht gehen.
Was meinst du damit?
Das Klima in unseren Breitengraden ist zum Beispiel wegen des warmen Golfstroms gemässigt. Nimmt die Klimaerwärmung zu, wird der Golfstrom ziemlich sicher seine Richtung ändern, denn die Meeresströmungen entstehen vor allem durch Temperatur- und Salzkonzentrationsunterschiede im Meer. Steigt die Temperatur am Nordpol so kann dies zu einer Veränderung der Richtung und Geschwindigkeit des Golfstroms und damit unseres Klimas führen.
Was viele nicht wissen: Einzellige Meeresalgen, so genanntes Phytoplankton, produziert mehr als 50 Prozent des Sauerstoffs unserer Atmosphäre. Übersäuerung, Erwärmung, Verschmutzung gefährden jedoch das Plankton. Das ist ein grosses Problem, da das Phytoplankton als unterstes Glied in der marinen Nahrungskette Nahrungsgrundlage praktisch aller anderen Lebewesen im Meer ist. Die Meere sind vor allem durch Strömungen, welche gelöstes Kohlendioxid in die Tiefe nehmen, aber auch durch die Aufnahme von CO2 durch das Plankton eine wichtige Kohlendioxid-Senke. Das pflanzliche Plankton absorbiert bei der Photosynthese CO2 und sinkt am Ende des Lebenszyklus auf den Meeresgrund. Ein gesunder, lebendiger Ozean ist also von vitalem Interesse auch für die Lebewesen und die Menschen an Land.
Menschen in Senegal, Somalia und anderswo haben nicht mehr genug zu essen. Das hat natürlich auch mit dem Fischkonsum zu tun: In den reichen Ländern wird überkonsumiert, der Fischbestand kann sich nicht erholen. BewohnerInnen der Schweiz und anderer Industrieländer sind nicht abhängig vom Fisch und werfen gar massenweise Esswaren weg. Wir müssen unsere Verantwortung für den Ozean wahrnehmen. Und das heisst, massvoller konsumieren.
Du selbst bist ja Vegetarierin. Seit wann?
Schon seit etwa zwanzig Jahren. Zuerst ass ich kein Fleisch, aber Fisch. Aber wenn ich mal Fisch ass, dann solchen aus hiesigen Gewässern. Seit etwa acht Jahre verzichte ich auch auf Fisch. Es wurde für mich klar, dass ich kein Tier mehr essen will. Das ist eine ganz persönliche Entscheidung, man sollte das nur tun, wenn man überzeugt davon ist. Ich bin nicht militant, radikal vielleicht. Ich will gar nicht, dass ein Tier für mich stirbt. Folglich müsste ich eigentlich vegan leben. Ich nähere mich diesem Ideal ganz gelassen. Ich möchte es so machen können, dass es passt. Im Moment halte ich selber Hühner und Hasen, die man metzgen wollte. Sie können bei uns ihren Lebensabend geniessen und nach ihren Bedürfnissen leben. Wenn sie mal ein Ei legen, dann esse ich das. Damit kann ich gut leben.
Was heisst für dich fair unterwegs sein?
Es bedeutet für mich, neugierig unterwegs zu sein. Nicht einfach zu konsumieren, im Sinne von "ich habe das bezahlt, also will ich es", sondern: "Was ist da, wie leben hier die Menschen?" Wenn ich einen Gast empfange, möchte ich ja auch, dass er sich für mich und mein Umfeld interessiert. Grundsätzlich finde ich, sollte man sich andern gegenüber so verhalten, wie man es von ihnen uns gegenüber erwartet. Egal, ob das einfach ist. Wenn es halt mal keinen Abfallkübel hat auf der Insel, nehme ich den Abfall mit, auch wenn die Einheimischen ihn liegen lassen. Gleichzeitig heisst fair sein für mich, in Gegenden, die von der Entwicklung her anders sind, wo etwa Umweltanliegen nicht so beachtet werden, nicht vorschnell zu urteilen, sondern die Ursachen, Beweggründe und Zusammenhänge zu verstehen versuchen.
Wie erlebst du die TouristInnen beim Whalewatching?
Es gibt bei Wildtiertouren auch Leute, die finden, dass sie etwas zu sehen bekommen müssen, weil sie doch dafür bezahlt haben. Gewisse Anbieter haben eine Geld-zurück-Garantie oder bieten an, nach einem Ausflug ohne Wildtiersichtung am nächsten Tag nochmals gratis mitfahren zu können. Dabei ginge es anders. Bei unseren Wal- und Delphinforschungsprojekten beispielsweise, an welchen Interessierte teilnehmen können, buchen die Gäste die Chance, ohne Erwartung in der Natur etwas zu erleben und zu lernen, mit dem Nicht-Programmierbaren klarzukommen. Sie werden damit auch auf sich selbst zurückgeworfen. Sie erleben mit all ihren Sinnen, sind neugierig, vielleicht sehen sie einen Wal, vielleicht auch etwas ganz anderes. In wirklich sehr seltenen Fällen war mal jemand enttäuscht.
Hat der übertriebene Konsum zu einer mangelnden Erlebnisfähigkeit geführt?
Zumindest bei unseren Gästen ist die Erlebnisfähigkeit schon noch da. Aber allgemein wird sie nicht gefördert. Das programmierte Erlebnis ist heute angesagt. Die Natur ist aber immer ein Abenteuer – für mich zumindest. Ich weiss nicht, was mich erwartet. Ich kann einfach da sein und schauen, was passiert. Für einmal ist nicht alles verplant und kontrolliert, ich muss nicht konsumieren. Man muss nicht immer mehr bieten, das ist nicht nötig. Unsere ProjektteilnehmerInnen geniessen immer wieder genau das: Nicht etwas gesehen oder gemacht haben müssen, sondern einfach zur Ruhe kommen und von Tag zu Tag offen sein dürfen für Neues. Sie brauchen kein Klimbim. Aber programmierte Erlebniswelten sind halt "in". Deshalb sind wohl auch Kreuzschifffahrten insbesondere bei jungen Menschen so im Trend, man kann vieles kombinieren: Fitness, Schwimmen, Klettern, Konsumieren und kommt dabei noch an verschiedene Orte. Ich weiss nicht, woher dieses Bedürfnis kommt, vielleicht liegt es tatsächlich an einer mangelnden Erlebnisfähigkeit, diesem Einfachsten vom Einfachen: "lose, luege, die eigene Fantasie anregen lassen."
fairunterwegs.org möchte die Menschen genau zu dieser Verhaltensänderung animieren. Wie gefällt dir das Portal?
Es ist sicher ein wichtiger Ansatz – mit euren fünf Faustregeln, den Tipps, wie die Leute konkret aktiv werden können. Vielleicht wäre es gut, da der belebten Welt noch mehr Raum zu geben. Ihr sprecht zwar von Umweltschutz, aber es wirkt noch wie ein Neutrum, ohne Lebewesen darin. Ihr seid sehr stark auf die Menschen fokussiert.
Wir kennen auch bei OceanCare die Schwierigkeit, die Leute dazu zu bewegen, vom Wissen ins Handeln zu kommen. Das hat viel mit Ethik zu tun.
Aber doch auch mit Lebensqualität.
Zunächst ist es eine Ethikdiskussion. Wie wichtig ist Ethik bei meinem Handeln? Ich denke, die Ethik wurde schon als etwas Wertvolleres gehandelt als heute. Daran muss man arbeiten und zeigen, dass es eben nicht uncool oder unsexy ist, von Ethik zu reden. Es geht nicht um Moralin im Sinne von "das macht man nicht", sondern ums Hinterfragen des Verhaltens. Damit mein Verhalten nachhaltig und fair ist, darf ich mich selber nicht zu wichtig nehmen. Das fällt den Menschen in den Industrieländern heute schwer. Bei Menschenrechten oder Naturschutz geht es immer darum, dass sich der und die Einzelne zurücknimmt und sich zum Beispiel fragt: Bin ich wirklich so wichtig, wie ich mich gerade sehe? Verliere ich so viel, wenn ich mich zurücknehme? Und – ist es denn wirklich ein Verzicht oder vielleicht nicht doch gar eine Art "Gewinn"? Wichtig ist es, wie fairunterwegs diese Fragen in einem modernen Kleid und ganz ohne Zeigefinger zu bringen, ganz elementar, das tut gut.
Weitere Informationen zu OceanCare: www.oceancare.org
Buchempfehlung von Sylvia Frey:
Alessandro Baricco: Novecento. Die Legende vom Ozeanpianisten. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. dtv, München 2006, 80 Seiten, CHF 11.90, EUR (D) 7.90, EUR (A) 8.20. ISBN 978-3-423-13457-6
Lisa-ann Gershwin: Stung! On Jellyfish Blooms and the Future of the Ocean. The University of Chicago Press 2013, 456 Seiten, englisch, EUR 17.95, ISBN: 9780226020105