Welches Buch führt dich auf die intensivste innere Reise?

Reiseführer bringen mich immer zum Träumen. Letztes Jahr habe ich mir einen Spanien-Reiseführer gekauft. Dort drin lese ich über die Gegend Galicien, die ich mit Freund*innen besuchen will, und stöbere natürlich auch in den Beschreibungen weiterer Gegenden. Da kommt bei mir richtig Vorfreude auf. Beim Lonely Planet gibt es ja fast keine Bilder, also stelle ich mir vor, wie es wohl aussieht, google manchmal auch. Ich bin eine extreme Ferienträumerin.

Im Moment lese ich zudem "Zehn unbekümmerte Anarchistinnen" des Genfer Autors Daniel de Roulet. Der historische Roman spielt in der Zeit nach dem anarchistischen Experiment der Pariser Kommune 1871 und in der Zeit der Differenzen in der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) zwischen den Zentralisten rund um Karl Marx und den Föderalisten rund um den Anarchisten Bakunin. Nach dem umstrittenen Ausschluss von Bakunin 1872 wurde in einem Gegenkongress in der jurassischen Uhrenstadt St. Imier die "Antiautoritäre Internationale" gegründet, bei der die Selbstbestimmung der Länderföderationen gelten sollte. Zehn Frauen aus St. Imier begeisterten sich für den Anarchismus und beschlossen, den Zwängen von Armut, Frauenrollen und Ausbeutung in den Uhrenfabriken zu entkommen und in Patagonien ein neues Leben zu beginnen. Als Startkapital entwenden sie je eine Longines 20A Luxusuhr. Das Liebespaar Colette und Juliette, das vorausgeht, wird gewaltsam umgebracht, und Emilie stirbt bei einer Geburt. Die übrigen sieben erreichen ihr Ziel, trotzen Widerstände machistischer Kolonialbeamter und bauen eine Bäckerei und eine Uhrenmacherwerkstatt auf. Als ein Kunde eine Longine 20A zur Reparatur vorbeibringt, erkennen sie, dass diese von Colette und Juliette stammt, und brechen auf, um herauszufinden, was mit den beiden geschehen ist. Weiter bin ich noch nicht. Mir gefällt die trockene Art, wie De Roulet schreibt. Auf der Überfahrt zum Beispiel treffen die Frauen auf Deck einmal auf Louise Michel, eine Strafgefangene und Idolfigur der Pariser Kommune – und die Ich-Erzählerin findet sie doof.

Was fasziniert dich an der Geschichte?

Mit gefällt der Kontext und die starken Frauen. Generell gefallen mir historische Romane, bei denen die geschichtlichen Fakten gut recherchiert sind und mit einer guten Geschichte zugänglich gemacht werden. Gerade wenn ich vom historischen Kontext in der Schule nichts erfahren habe. Wir lernten höchstens ein bisschen etwas über die Russische Revolution und bekamen dank einer deutschen Vertretungslehrerin eine Schnellbleiche über Marx. Aber vom Anarchismus und der sozialistischen Geschichte der Schweiz haben wir nichts gehört.

Bist du Anarchistin?

Ich finde die Gesellschaftsvision sehr spannend, glaube aber nicht daran, dass eine herrschaftsfreie Welt möglich ist. Ich denke, es braucht grundlegende Regeln zum Schutz der Minderheiten oder der Natur. Doch damals wie heute stellt sich die Frage, wohin sich die Welt entwickeln soll. So wie sie heute funktioniert, kann es nicht weiter gehen. Deshalb interessieren mich alternative Gesellschaftsmodelle und die historischen Versuche, sie zu leben. Aber ich bin nicht die, welche schon wüsste, welches Modell funktioniert oder das Beste ist. 

Als Grossrätin von BastA! Basel, Mitglied der Bau- und Raumplanungskommission des Grossen Rates und Mitglied verschiedener Vereine und Verbände, welche Umwelt und Mieteranliegen vertritt, gestaltest du die Basler Gesellschaft nach Kräften mit. Welche Vision leitet dich?

Zurzeit leben wir in einem pseudodemokratischen System. Da kommt ein grosser Investor, und plötzlich werden ganze Quartiere umgeplant und umgebaut. Für mich ist es offensichtlich, dass das nicht den Menschen zugute kommt. Stadtentwicklung muss anders funktionieren, von unten und mit den Menschen, die es direkt betrifft. Beim Widerstand gegen Rheinhattan stellt sich immer wieder die Frage: Sollen wir bessere Ideen entwickeln und diese dann mit Initiativen durchsetzen? Oder einem anarchistischen Ansatz folgen? Aber was hiesse das? Es gibt heute keine grösseren Experimente von Basisdemokratie bei der Quartier- oder Stadtentwicklung, wie es mit der Pariser Kommune versucht wurde. Deshalb bin ich an Inputs interessiert. Es ist eine Spurensuche. 

Aber wenn du von dir ausgehst: Was soll dir die Stadt bieten?

Ein Vielfalt sowohl bezüglich Gestaltung wie auch bezüglich Menschen und Lebensformen. Das Tolle an einer Stadt ist, dass ich einerseits immer Gleichgesinnte finde und mich andererseits auch zwangsläufig mit Menschen anderer Einstellung auseinandersetzen muss, etwa Nachbarn oder Mit-Wartende an der Tramhaltestelle. Eine Stadt muss zudem Aufenthaltsqualität bieten. Ich kann ja nicht immer in der Wohnung bleiben, also muss es mir möglich sein, mich in der Stadt ohne Kaufzwang aufzuhalten. Wir haben schöne Pärke, und mit der Hafenöffnung gibt es eine tolle Zwischennutzung. Leider sind mit der Zwischennutzung aber auch die ruhigen Ecken am Hafen verschwunden. Es braucht mehr Orte, die für die Wohnbevölkerung und gerade auch für die Kinder gut erreichbar sind. Eltern sollten die Möglichkeit haben zu sagen: "Geh mal raus zum Spielen, ich schaue nach zwei Stunden vorbei." Es geht darum, die Stadt der Marktlogik zu entziehen und Plätze zu erhalten, die keinen Gewinn abwerfen müssen. Aktuell gibt es Zwischennutzungen. Aber viele dieser Freiräume verschwinden, wie aktuell der Hafen. 

Der Tourismus hat ja die Tendenz, die Marktlogik zu verschärfen.

Glücklicherweise ist der Tourismus in Basel (noch) nicht so gewichtig, weshalb die Branche die Stadt nicht einfach nach ihren Regeln gestalten kann und Abstimmungen etwa für längere Ladenöffnungszeiten verliert. 

Ich bin nicht gegen den Tourismus. Es ist ein Wirtschaftszweig mit dem Potenzial, Einkommen verträglicher zu erwirtschaften, als wenn eine Mine ausgebeutet wird. Und Reisen an und für sich kann neue Impulse geben, sowohl bei der räumlichen Entwicklung wie zwischenmenschlich. Der Austausch über den engeren Kulturkreis hinweg ist wertvoll. Aber Reisen sind zu einem Massenkonsumgut geworden. Heute wird fast erwartet, dass man jährlich oder ein paar Mal im Jahr reist. Es ist komisch, wenn jemand in den Sommerferien nicht weg war. Extrem finde ich auch Flüge für Wochenendtrips. Ich gehe auch gerne mal für ein Wochenende weg, aber dann mit dem Zug in den Schwarzwald oder den Jura.

In der Schweiz nimmt die Fliegerei weiter zu, obwohl viele deine Meinung teilen.

Solange es gleich viel kostet, nach Berlin an die Party zu fliegen wie den Zug nach Zürich zu nehmen, wird sich nicht viel ändern. Es braucht andere Rahmenbedingungen. Öffentlicher Verkehr muss billiger werden. Ausserdem ist es kompliziert, die Bahnverbindungen herauszusuchen. Ich recherchiere gerne Reisewege, aber vielen ist das zu mühsam. Für eine Zugfahrt nach Galicien muss ich drei Websites konsultieren, die vom TGV, die der spanischen RENFE und die der Regionalbahn. Alle haben andere Buchungsfenster.

Du bist ja Nationalratskandidatin. Änderst du die Rahmenbedingungen, wenn du diesen Herbst in den Nationalrat gewählt wirst?

Veränderung kommt nicht einfach von der Politik. Es braucht den Druck der Strasse, ein breites Engagement der Bevölkerung. Seit Jahrzehnten spricht man über den Klimawandel, ohne dass sich das in der Politik niedergeschlagen hat. Die Flugindustrie ist mächtiger und hat mehr Geld als die "Flygskamer". Nur dank der Klimajugend spricht man heute über die Flugticketabgabe. Aber die Verlängerung der Nachtflugsperre um zwei Stunden ist in Basel zum Beispiel nicht durchgekommen – die Wirtschaftsvertreter haben sich durchgesetzt. Da muss der Druck noch grösser werden. Also tue ich beides: Ich gehe auf die Strasse und beteilige mich an den Bewegungen der Zivilgesellschaft. Und dann versuche ich deren Anliegen im Nationalrat gut zu vertreten. 

Was heisst für dich fair unterwegs sein?

Sowohl im Alltag wie auf Reisen bewege ich mich mit dem Fahrrad oder der Bahn und fliege sehr selten. Ich versuche, viel Lokales mitzubekommen und bevorzuge ein Pub oder eine kleine Gaststätte und den Dorfladen, Markt oder Strassenhändler. So komme ich mit den Menschen in Kontakt. Im Zug in Argentinien hat es so geholpert, dass es mich fast vom Sitz gerissen hat. Aber ich habe etwas vom Alltag der Lokalbevölkerung mitbekommen. Ich setze mich auseinander mit dem, was in Galicien politisch läuft und spitze die Ohren, wenn in den Nachrichten etwas zur Region gesagt wird. Ich scheue mich etwas davor, einfach ein Gespräch mit jemandem anzufangen, aber eigentlich würde ich mich gerne auf dem Dorfplatz mit den Alten unterhalten, die dort sitzen.  Ich weiss nicht, ob die das wollen würden, aber für mich wäre es sicher eine Bereicherung. 

Du warst ja vor zwölf Jahren Praktikantin bei uns und hast mitgeholfen, das Reiseportal aufzubauen. Gefällt dir, wie es sich entwickelt hat?

Es ist kein Vergleich zum Anfang. Das Portal ist sehr breit aufgestellt und animiert zum Reingucken. Es bietet eine gute Mischung zwischen Fakten, Infos und Tipps und Unterhaltung zum Schmökern. Die Menorca-Challenge ist ein wirklich guter Ansatz, um die Community einzubeziehen. Es wird spannend zu sehen, was an Rückmeldungen kommt. Ihr betrachtet den Tourismus nicht nur kritisch, sondern diskutiert auch Ansätze, wie er der Lokalbevölkerung mehr zugute kommen könnte – nicht nur über irgendwelche Labels, eure Recherche greift tief. Macht weiter so. Das Wissen ist da und müsste noch viel mehr von der breiten Bevölkerung wahrgenommen werden, nicht nur von Überzeugten. Ich freue mich auf weitere Anstösse wie die Menorca-Challenge.

Anthony Ham: Lonely Planet Spanien. Ostfildern 2019, 908 Seiten, EUR 28.99, CHF Fr. 42.90,  ISBN 978-3-8297-4466-9

Daniel de Roulet: Zehn unbekümmerte Anarchistinnen. Aus dem Französischen übersetzt von Marie Hoffmann Dartevelle. Limmat Verlag, Zürich 2017. 186 Seiten, CHF 29.90, EUR 24.00, ISBN 978-3-8579-1839-1