Fair unterwegs mit Tourismusforscher Hansruedi Müller
Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, über den "Nachtzug nach Lissabon" von Pascal Mercier zu schreiben, über diese verrückte Geschichte des Lehrers Raimund Gregorius, der aus einer inneren Berufung heraus seine Klasse am Gymnasium Kirchenfeld in Bern abrupt verlässt und sich auf die Reise nach Lissabon aufmacht. Und der auf seiner wundervollen Reise immer tiefer in die sagenumwobene Geschichte eines geheimnisvollen portugiesischen Autors eindringt. Doch dann bekam ich beim Aufräumen am Ostersamstag ganz zufällig das paradoxe Verwirrspiel von Antonio Tabucchi "Indisches Nachtstück" in die Finger, das mit einer Widmung eines lieben Freundes versehen ist, Peter Kühler, dem ehemaligen Chefredaktor der hotel+tourismus revue, "Für Dora und Hansruedi – Hoffentlich seid Ihr vom Zauber dieser Erzählung ebenfalls so berührt wie ich," schreibt er. Bücher mit Widmungen eröffnen immer zusätzliche Dimensionen, denn sie erinnern an das Ereignis, zu dem es überreicht wurde und geben Einschätzungen von Dritten preis.
Doch in diesem Buch von Tabucchi darf man nur zu blättern beginnen, wenn man etwas Zeit hat, um verführt zu werden, verführt in die faszinierende Vielfalt Indiens mit all seinen realen und irrealen Gegensätzen, Widersprüchen und Verheissungen. Auf der Suche nach seinem Freund respektive seinem Doppelgänger respektive seinem Selbst reist der Autor von Bombay über Madras nach Goa, ausgerüstet nur mit leichtem Reisegepäck und einem Reiseführer "India, a travel survival kit". Bereits an den ersten beiden Tagen in Bombay begegnet er den Niederungen des Khajuraho Hotels und dem Luxus des Taj Mahal Hotels. Er erfährt, dass "in Indien viele Menschen verloren gehen, weil das Land dafür wie geschaffen ist", auch "ein Universum monotoner, gleichförmiger, nicht zu unterscheidender Töne", ein Land, das zu enträtseln unmöglich ist. Es wird ihm bewusst, dass "in der reinen Tätigkeit des Schauens stets ein wenig Sadismus steckt" und dass "ohne Rahmen das Sichtbare immer etwas anderes ist." In einer genialen Leichtigkeit charakterisiert er Menschen und skizziert Situationen, die tiefe Einblicke in den Facettenreichtum Indiens ermöglichen.
Das "Indische Nachtstück" von Antonio Tabucchi ist nicht nur ein paradoxes Verwirrspiel sondern auch zugleich ein Reiseführer für Liebhaber zielloser Reisen. Persönlich habe ich Indien schon über ein Dutzend Mal besucht – Dora, meine Frau stammt schliesslich selber aus Kalkutta – doch hat mich das "Indische Nachtstück" nicht nur in Bekanntes und Liebgewonnenes entführt, sondern auch in viel Unbekanntes und Unsichtbares. "Möchtest Du Dein Karma kennen lernen?", fragte der Hellseher. "Es geht nicht – du bist ein anderer."
Antonio Tabucchi: Indisches Nachtstück, DTV-Verlag, München 2009, ISBN 3-423-11952-7
Pascal Mercier: Nachtzug nach Lissabon, btb, München 2006, ISBN-13: 9783442734368