Fair unterwegs mit Ueli Locher, Perspektivenwechsler
Basel, 19.03.2014, akte/
Welches Buch führt Sie auf die intensivste Reise?
Ich bin Mitglied einer Literaturgruppe und lese immer wieder spannende Bücher. Eines, das mich sehr berührt hat und etwas vom Eindrücklichsten ist, das ich in letzter Zeit gelesen habe, ist die "Atemschaukel" von Herta Müller. Der Roman erschien 2009 und brachte Müller im gleichen Jahr die Ehrung mit dem Nobelpreis für Literatur. In "Atemschaukel" erzählt der siebzehnjährige Leopold Auberg, wie er mit anderen aus Siebenbürgen, einem deutschsprachigen Gebiet Rumäniens, gegen Ende des zweiten Weltkriegs in ein Arbeitslager in der Sowjet-Ukraine verfrachtet wird. Der ganze Überlebenskampf, das Schicksal einer Person, die das Unmenschliche überlebt hat, die Art, wie sie die Erlebnisse verarbeitet, werden in einer bildhaften und berührenden Art ganz ohne Kitsch geschildert. Müller hat dafür auch ausführlich recherchiert. Sie reiste mit dem deutschrumänischen Lyriker Oskar Pastior vor Ort und sammelte die Geschichten der Überlebenden.
Was fasziniert Sie an dieser Geschichte?
Ich lese gerne Bücher, die Welten erschliessen, mit denen ich nicht vertraut bin. Es ist mir auch wichtig, dass sie einen Realitätsbezug haben, auf etwas aufbauen, was wirklich geschehen ist. Die Schilderungen aus dem Arbeitslager gehen unter die Haut, rütteln auf und fordern Respekt für die Menschen, die das alles überlebt haben.
Den Blick in unvertraute Welten haben Sie im Laufe ihres Lebens immer wieder gesucht.
Das stimmt. Als gelernter Psychologe arbeitete ich fünf Jahre lang für verschiedene humanitäre Organisationen in Afrika und Asien. Zurück in der Schweiz wirkte ich mit bei der Räumung der offenen Drogenszenen am Platzspitz und Letten. Beim Bundesamt für Gesundheit war ich unter Bundesrätin Ruth Dreifuss zuständig für die nationale Sucht- und Aidspolitik und die Revision des Betäubungsmittelgesetzes. Anschliessend leitete ich die Bewährungs- und Vollzugsdienste in der Justizdirektion des Kantons Zürich und lernte dort Menschen kennen, die zu einer Strafe oder Massnahme verurteilt worden waren. Bei Heks schliesslich ging es für mich unter anderem zurück zur Entwicklungszusammenarbeit, mit der ich mich auch während meiner 13 Jahre als Stiftungsrat von Terre des hommes Kinderhilfe beschäftigt hatte.
Das sind viele radikale Perspektivenwechsel. Was treibt Sie dazu an?
Ich bin ein neugieriger Mensch. Es ist mir nicht wohl, wenn ich in eine ewiggleiche Routine verfalle. Ich suche Herausforderungen und neue Themen.
Fasziniert es Sie, Standpunkte zu vertreten, die unbequem sind?
Als Direktor eines Hilfswerks stehe ich immer wieder im Gegenwind. Glaubwürdige Diakonie ist aber nicht möglich, ohne die Ursachen von Missständen zu thematisieren. Damit eckt man an, setzt sich der Kritik aus.
Weshalb tun Sie es?
Mir ist es ein Anliegen, einen kleinen Beitrag zu einer besseren Welt zu leisten. Dazu gehört, nicht nur Symptome von Armut und Ungerechtigkeit zu bekämpfen, sondern auch bei den Ursachen anzusetzen. Dass man damit da und dort jemandem auf die Füsse tritt, lässt sich nicht vermeiden.
Heks setzt sich also explizit gegen das Unrecht auf der Welt ein?
Genau. Wir setzen uns ein für Menschen auf der Schattenseite des Lebens. Ich habe oft Leute angetroffen, die ohne eigenes Verschulden benachteiligt sind. Unser Einsatz für sie ist auch Ausdruck unseres christlichen Engagements gemäss der Bibelstelle "Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan" (Mt 25:40).
Wie passt das zur Räumung des Platzspitzes vor 22 Jahren und dem Elend, das diese mit sich brachte?
Für die Betroffenen brachte die offene Drogenszene am Schluss mehr Elend als deren Schliessung. Aber erst als die umliegenden Gemeinden und Kantone Verantwortung für "ihre" Drogenabhängigen übernahmen, gelang die Räumung. Es brauchte vor allem dezentrale Strukturen, in denen die Suchtkranken betreut werden konnten, wie etwa Injektionsräume oder Wohnplätze. Aus den Zürcher Erfahrungen entstand schliesslich die Viersäulenpolitik – mit Prävention, Therapie, Überlebenshilfe und Repression -, die heute für die Schweiz Standard ist und auch in anderen Ländern viele Nachahmer fand.
Wie erhält man sich bei der Arbeit in Extremsituationen die Hoffnung auf eine bessere Welt?
Die positiven Veränderungen, die wir mit der Arbeit von Heks erzielen, sind ein grosser Aufsteller. Ich reise zwei- bis dreimal pro Jahr in unsere Projektgebiete, um zu sehen, was unsere Arbeit bewirkt. Dabei sehe ich viel Elend und Gewalt, aber ich höre auch von Menschen, die mit Unterstützung von Heks ihre Lebenssituation entscheidend verbessern konnten und darüber glücklich sind. Es ist befriedigend, zu sehen, wie viel wir mit unseren recht bescheidenen Mitteln erreichen können.
Sie sind viel unterwegs. Was heisst für Sie fair unterwegs zu sein?
Im umfassenden Sinn heisst es für mich, als Privilegierter Verantwortung zu tragen, dass wir nicht Produkte und Dienstleistungen konsumieren, die unter Verletzung der Menschenrechte oder auf Kosten unserer Umwelt produziert wurden.
Wissen wir das immer?
Ich kann wählen, ob ich ein T-Shirt für fünf Franken oder ein Fairtrade-T-Shirt kaufe, ob ich einen Importapfel oder einen aus der Region esse, Trauben aus Chile oder solche aus dem Wallis. Ich kann wählen, nicht immer massenhaft das Billigste, sondern in Massen etwas Faireres zu konsumieren. Und auch auf meinem Stubenboden will ich kein Edelholz aus dem Amazonas-Regenwald. Man kann viel mehr tun, als man gemeinhin glaubt.
Und wie sieht es beim Reisen aus?
Beruflich bin ich regelmässig in anderen Ländern unterwegs und muss dazu leider auch das Flugzeug benutzen. Aber meine Sommerferien verbringe ich in der Schweiz. Jedes Jahr bepackten früher meine Frau, unsere Tochter und ich das Fahrrad und fuhren dann so lang wir mochten kreuz und quer durch die Schweiz. Am Schluss nahmen wir den Zug nach Hause. Meine Tochter kommt jetzt nicht mehr mit, sie hat ihr eigenes Programm. Heute wandere ich gerne mit meiner Frau im Bündnerland über Stock und Stein.
Entdecken Sie die Heimat?
Absolut. Wir geniessen die Dinge, die nicht weit weg sind. Zu Fuss oder mit dem Velo, das ist erholsam, Langsamkeit ist Qualität. An einem Fest sagte ich einmal zu einem guten Freund, ich möchte per Fahrrad durch ganz Italien fahren, vom nördlichsten bis zum südlichsten Punkt. Das haben wir vor drei Jahren gemacht und es war ein ganz ausserordentliches Erlebnis.
Heks gehört zu den Trägern des arbeitskreis tourismus & entwicklung, der hinter dem fairunterwegs-Portal steht. Warum?
Weil wir sehen, was passiert, wenn wir rücksichtslos auf Reisen sind. Der Tourismus bietet vielen Menschen eine wichtige Einkommensquelle und kann, richtig gemacht, ein Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung und sozialen Absicherungen von Gemeinschaften sein. Es wird einfach noch zu wenig in diese Richtung gearbeitet. Ich habe an verschiedenen Orten Ansätze gesehen, bei denen Projekte der ländlichen Entwicklung mit Tourismus kombiniert wurden. Aber es gibt natürlich viele Knackpunkte, etwa wenn der ehemalige Fischer als Touristenführer besser verdient, oder wenn das Projekt klein anfängt, plötzlich aus dem Ruder läuft oder die Konkurrenz aus der Tourismusbranche einfährt. Die Balance muss immer wieder neu gesucht werden. Ich finde wichtig, dass ihr kritisch und konstruktiv mit der Tourismusbranche zusammenarbeitet und konkrete Vorgaben für einen fairen Tourismus entwickelt, etwa mit dem neuen Branchenstandard für Menschenrechte. Das ist ein beachtlicher Erfolg.
Ueli Lochers Leseempfehlung:
Herta Müller: Atemschaukel. Fischer Taschenbuch, Frankfurt a.M. 2012,
369 Seiten, CHF 21.90, EUR 14.00, ISBN 978-3-596-51203-4