Welches Buch führt dich auf die schönste Reise?

Da schwanke ich zwischen zweien: Das eine ist von Manès Sperber: Wie eine Träne im Ozean. Es ist ein Lieblingsbuch und ähnelt der Trilogie "Ästhetik des Widerstandes" von Peter Weiss. Es geht um Personen, die widerständig sind. Es sind Biografien von Linken, die sich engagieren und exponieren.

Und das zweite Buch?

Das zweite Buch ist von Michel Tournier: Freitag oder das Leben in der Wildnis. Es nimmt die Geschichte von Robinson Crusoe und Freitag auf. Wie in der Originalgeschichte beginnt auch bei Tournier die Beziehung zwischen Robinson und Freitag als eine zwischen Herr und Knecht. Aber Tournier geht auf die Dynamik der Beziehung ein. Robinson kolonisiert und kultiviert mit strengem Regime die Insel – und schränkt damit auch seine eigene Freiheit ein. Er reproduziert die Herrschaftsverhältnisse, aber mit der Zeit verändern sich die Positionen, und Freitag wird allmählich zum Freund. Zum Zeitvertreib spielt Freitag die Beziehung zwischen Robinson und ihm selbst als Theaterszenen. Robinson sieht sich gespiegelt, und erst so wird es ihm möglich, seine Position von "genug ist nicht genug, wir müssen noch mehr Reserven anlegen, obwohl sie schon verrotten" zu verändern.

Bei beiden Büchern geht es um Kritik an den herrschenden Verhältnissen. Wie sehr schliesst du dich selbst in dieser Kritik mit ein?

Mit 17, das war 1968, lebte ich in einer Kommune in Basel. Wir glaubten zunächst, ganz frei zu sein. Mit der Zeit merkten wir aber, kleinbürgerliche Verhältnisse zu reproduzieren, von denen wir uns radikal absetzen wollten. In diesem Jahr ging ich auch nach Paris. Dort las ich auf der Strasse:  "Soyez réalistes, demandez l’impossible!". Das eröffnete mir neue Horizonte, die ich in unserer anarchistischen Schülerzeitung AnaPaz weiter geben wollte. Der Rektor verbot dann die eigentlich pazifistische Zeitung. Und am gleichen Vormittag, als wir die neue Ausgabe trotzdem zur Schule brachten, starb er. Dann hagelte es Kritik. Obwohl wir in der Zeitung ja nur fragten, warum man Geld für das Militär ausgibt, während andere hungern. Die autoritären Lehrkräfte empörten mich. Wir betrachteten uns eher als Opfer. Und das Selbstreflexive hielt sich in Grenzen.

Aber ich frage nochmals: Kritisiertest Du damals die herrschenden Verhältnisse als einer, der nichts mit diesen zu tun hat? Im Sinne von "die machen Vietnamkrieg, ich kritisiere das", oder hast du auch deine Beteiligung am gesellschaftlichen System kritisch betrachtet?

Es gab durchaus Momente der Selbstreflexion. Wir fragten etwa mit Jean-Paul Sartre, ob es nicht auch einen antirassistischen Rassismus gebe. Oder wir lasen den deutschen Philosophen und Soziologen Theodor W. Adorno, der in seiner Dialektik der Aufklärung dafür eintritt, sich mit dem eigenen Schatten auseinander zu setzen. Aber wir fühlten uns schon als bessere Menschen und hievten uns selbst ein wenig auf den Sockel. Das erlebe ich bei heutigen Jugendlichen anders.

Was heisst für dich fair unterwegs sein?

Es hat etwas mit dem kategorischen Imperativ zu tun. Vereinfacht gesagt: Handle so, wie Du behandelt werden möchtest. Versuche dich selbst zu sein, dich nicht über andere zu erheben. Hole dir keinen Vorteil auf Kosten anderer, sei respektvoll. Auch die Neugier als Haltung gehört dazu. Man kann von vielen Menschen viel lernen.

Und wie würdest du das aufs Reisen übersetzen?

Beim Reisen ist es ein hoher Anspruch. Denn Reisen verbraucht viele Ressourcen, es löst auch bei den "Bereisten" etwas aus, das sehr unterschiedlich sein kann. Insbesondere bei Leuten, die selbst nicht die Möglichkeit haben, zu reisen.

Wenn du eine Güterabwägung mit den Vor- und den Nachteilen des Reisens machst, kannst du dann noch mit gutem Gewissen reisen?

Das Reisen ist widersprüchlich. Es kann eine Horizonterweiterung sein. Aber dies geschieht zu Lasten  der Umwelt und oft auch der "Bereisten" selbst. Das Reisen kann aber helfen, Dinge differenzierter zu sehen, und das kann sich auch positiv auswirken.

Ist das nicht eine etwas schöngefärbte Darstellung einer durch und durch kommerzialisierten Freizeitbeschäftigung?

Das mag sein. Ich reise persönlich selten. Wobei die Kommerzialisierung uns auch hier im Alltag immer wieder einholt

Du warst von 1978 bis 1988 der erste Geschäftsleiter des arbeitskreises tourismus & entwicklung. Was wolltest du damals im Tourismus verändern?

Wir kritisierten den Tourismus als neue Form des Kolonialismus und empfahlen, möglichst nicht oder wenig zu reisen. Und bei alternativen Reiseformen stellten wir fest, dass die Missverständigung manchmal sogar grösser war als beim Massentourismus.

Du hast in den letzten Jahren viel zu Menschen in Armut und reichen Menschen recherchiert. Siehst Du einen Ansatz, wie dieses fair unterwegs und der gesellschaftliche Zusammenhalt wieder mehr Gewicht haben könnten?

Zur Zeit verschärft sich die soziale Brisanz. Die soziale Kluft öffnet sich. Wenn das so weiter geht, bricht der gesellschaftliche Zusammenhalt auseinander. In den 1970er-Jahren noch stiegen die Preise für Rohstoffe. Das weckte in südlichen Kontinenten grosse Hoffnungen. Auch, weil eine politisch liberale Haltung in westlichen Industrieländern dominierte. Sie hielt Kapital und Arbeit für gleichwertig. Das änderte sich mit dem angelsächsischen Marktliberalismus. Er forcierte die Verwertung des Kapitals und unterlief auch Konzepte  einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung, an die wir heute wieder anknüpfen sollten. Wenn wir die Preise für Primärgüter an industriell gefertigte anpassen, dann erzielen so genannte Entwicklungsregionen enorme Mehrerlöse. Aber das bedeutete auch beim Reisen, den Austausch selektiver wahrzunehmen und die Umwelt und die Leistungen der Bereisten viel höher zu bezahlen.

Stärkt das Reiseportal fairunterwegs.org die Bemühungen, die Beziehungen im Tourismus fairer zu gestalten?

Das ist wohl ein widersprüchlicher, aber schon ein kleiner Schritt in diese Richtung. Und jeder Schritt ist ein Schritt. Wichtig finde ich, dass Informationskampagnen immer auch fragen, was eigentlich wichtig ist im Leben. Es kann ja nicht bloss darum gehen, alles schneller drehen zu lassen.


Buchempfehlungen:

Manès Sperber: Wie eine Träne im Ozean. Romantrilogie. dtv, München 2000, 1040 S., CHF 27.50; ISBN 978-3-423-12835-3

Michel Tournier: Freitag oder das Leben in der Wildnis
Hanser, 176 S., CHF 11.50; ISBN 978-3-423-62300-1, 2007

Ueli Mäder, Ganga Jey Aratnam, Sarah Schilliger: Wie Reiche denken und lenken. Reichtum in der Schweiz: Geschichte, Fakten, Gespräche. Rotpunktverlag, Okt. 2010, 444 S., ISBN 978-3-85869-428-7, CHF 38.00