Welches Buch führt Sie auf die intensivste innere Reise?

Eigentlich brauche ich dazu gar kein Buch: Wenn ich in den Alpen zu Fuss unterwegs bin, wird mein Kopf frei, und die Landschaft, durch die ich gehe, motiviert mich automatisch, über das Mensch-Natur-Verhältnis assoziativ nachzudenken.
Ich finde dabei das Buch von Rolf Peter Sieferle "Rückblick auf die Natur. Eine Geschichte des Menschen und seiner Umwelt" (1997) sehr anregend. Es entwirft ohne zu grosse wissenschaftliche Systematik eine globale Mensch-Umwelt-Geschichte auf der Grundlage unterschiedlicher Energienutzungssysteme. Die Geschichte beginnt mit dem unmodifizierten Solarenergiesystem der Jäger und Sammler, und geht bei den Agrargesellschaften über zu einem kontrollierten Solarenergiesystem. Mit der Industrialisierung beginnt das fossile Zeitalter, das seine eigene Energiebasis sehr schnell vernutzt und deshalb keine Zukunft hat.

Das scheint mir eine düstere Sicht auf die Welt.

Nicht unbedingt. Es ist zunächst eine interessante Analyse dessen, was abgelaufen ist. Sieferle präsentiert keine Lösung. Aber nur wenn wir die grossen Fragen richtig stellen, können wir Lösungen finden.

Sie vertreten einen etwas anderen Ansatz.

Ja, ich finde Sieferles Ansatz überzeugend und anregend, aber einseitig. Ich möchte Lösungen entwickeln. Dabei zieht es mich nicht zurück in die Vergangenheit, aber ich gehe aus von der historischen Erfahrung, dass es möglich ist, die Natur tiefgreifend zu verändern und zu nutzen, ohne sie zu zerstören. Damit wende ich mich gegen die heute verbreitete Gleichsetzung von Naturnutzung = Naturzerstörung und von Nichtnutzung = Naturschutz. Ich zeige am Beispiel der Alpen konkret auf, dass wir Natur nutzen und gleichzeitig bewahren können.

Wie sieht das zum Beispiel aus?

Die bäuerlichen Kulturlandschaften sind starke ökologische Eingriffe in die Natur, die die Alpen stark verändern, aber nicht zerstören. Oder wenn wir den heutigen Tourismus nehmen: Ein dezentraler Tourismus in kleinen Strukturen kann umweltverträglich gestaltet werden, bei den grossen Tourismuszentren ist dies nicht möglich. Diese wachsen derzeit und verdrängen die kleinen und mittleren Anbieter vom Markt. Um den Alpentourismus umweltverträglich zu machen, braucht es deshalb eine Doppelstrategie: Die Tourismuszentren dürfen nicht weiter ausgebaut werden, und ausserhalb dieser Zentren muss ein dezentraler, umweltverträglicher Tourismus gestärkt werden.

Sind einem solchen Ausbaustopp nicht durch finanzstarke Investoren enge Grenzen gesetzt?

Ja, diesen Druck gibt es. Am grössten ist er bei der "Compagnie des Alpes/CDA", dem grössten Skigebietsbetreiber der Welt, der elf grosse Skistationen in den französischen Alpen und viele Sommer-Freizeitparks in ganz Europa besitzt. Da die potenzielle Zahl der Skifahrer in Europa zurückgeht – die Bevölkerung wird weniger und älter – verfolgt die CDA die Strategie, Skifahrer aus China in ihrer Skistationen zu holen. Die Olympischen Winterspiele 2022 finden ja in Peking statt und die chinesische Regierung hat versprochen, dass es bis dahin 300 Mio. Skifahrer in China geben soll. Deshalb bereitet die CDA eine finanzielle Zusammenarbeit mit dem chinesischen Konzern Fosun vor, der 2015 den "Club Mediterranée" gekauft hat, und in der Schweiz und in Österreich gibt es ähnliche Projekte. Auf diese Weise hofft man, den Skitourismus in den Alpen permanent weiter auszubauen – aber ein unendliches Wachstum ist im begrenzten Gebiet der Alpen gar nicht möglich, und sie sind heute schon für den Skitourismus übererschlossen.

Welche Forderungen an die Politik stellen Sie?

Kein weiterer Ausbau der Tourismuszentren – keine neuen Seilbahnen, Skigebietszusammenschlüsse, Hotelsiedlungen. Diese Forderung, welche die Alpenschutzkommission CIPRA an die Alpenkonferenz in Grassau/Bayern 2016 gestellt hat, muss in die breite Öffentlichkeit getragen werden.

Fürchten Sie sich vor einem Massentourismus wie in Goa oder Venedig?

Ja, weil solche Zentren heute schon Freizeit-Ghettos sind. Riesige Freizeitparks, die überall stehen könnten und die mit den Alpen nichts zu tun haben.

Was soll mit solchen Zentren geschehen?

Wenn der weitere Ausbau gestoppt ist, dann müssten sie sich auf einen ökologischen Umbau konzentrieren. Also auf eine Reparatur aller bestehender Umweltschäden und auf den Aufbau von orts- und regionstypischen Angeboten, die statt austauschbarer Freizeitparks die konkrete Natur, Geschichte und Kultur eines Alpentals ins Zentrum stellen.

Und wie wollen Sie ausserhalb der Zentren die Abwanderung aus den Bergdörfern stoppen?

Ausserhalb der Zentren sollte der Tourismus dezentral in nicht-technisierten Formen aufgewertet werden, um einen Wander-, Natur- und Kulturtourismus zu ermöglichen und eine höhere Wertschöpfung zu ermöglichen. Der Tourismus soll dabei keine Monostruktur sein, sondern die bestehenden Einkommensquellen auf umwelt- und sozialverträgliche Weise ergänzen. So können die heute so wichtigen dezentralen Arbeitsplätze gestärkt werden. Der Besuch des Alpenraums wird dann zu einer emotional-sinnlichen Naturerfahrung, bei der man die beiden Seiten von Natur erlebt: Vielfalt und Bedrohung. Gerade für Menschen, die in ihrer Berufs- und Alltagswelt immer naturferner leben, stellen diese Erlebnisse eine grosse Bereicherung dar.

Gibt es dazu ein gutes Beispiel?

Solche Beispiele gibt es viele, etwa die Grande Traversata delle Alpi, ein italienischer Weitwanderweg, der in rund 1000 km den gesamten piemontesischen Westalpenbogen durchzieht. Oder das Ötschergebiet in Niederösterreich: Am Eingang zu den Ötschergräben entstand in Zusammenarbeit mit der Niederösterreichischen Landesausstellung 2015 ein neues ökologisches Naturparkzentrum direkt am Stausee in Wienerbruck und an der Mariazeller Bahn. Im Lesach-Tal in Kärnten leben die meisten der rund 1300 Einwohner von der Land- und Forstwirtschaft, ein sanfter Bergsteiger- und Wildwassertourismus ergänzt die Wirtschaftsaktivitäten. Oder die "Bergsteigerdörfer" in den österreichischen und bayerischen Alpen, der "Walserweg Graubünden", die "Via Alpina" usw. Die grösste Schwierigkeit liegt darin, dass diese vielen guten Beispiele unverbunden nebeneinander stehen, es gibt keinen Zusammenhang.

Sie halten die Tourismusentwicklung in den Alpen für exemplarisch für Tourismusentwicklung überhaupt. Inwiefern?

Die Alpen sind eine alte Tourismusregion, wo die Bevölkerung den Umgang mit den Tourismus allmählich lernen konnte. Nehmen wir wieder das Beispiel des Gasteiner Tals. Schon im Mittelalter reisten Badetouristen an, eine Art Massentourismus begann bereits in der Postkutschen-Zeit. In diesem Tal haben die Menschen gelernt, wie man Distanz zum Tourismus hält. Schon 1983 entschieden die Bergbahnen, die Skigebiete nicht weiter auszuweiten, sonst werde das Tal total vom Tourismus dominiert und sie völlig davon abhängig. In den Siebzigerjahren machte man Erfahrungen mit den Zweitwohnungen – und dass diese dem Tal nichts bringen, weshalb man ihren Bau limitierte. Teile des Brauchtums werden in Gastein heimlich ausgeübt, damit es nicht touristisch ausgeschlachtet werden kann. Die grossen Erntedankprozessionen mit allen Vereinen in Tracht stehen nicht in den Tourismusprospekten und bei ihnen stehen die Einheimischen im Zentrum.

Aber das ist nur möglich, wo die Bevölkerung aktiv die Tourismusentwicklung steuern kann, was in vielen Tourismusdestinationen nicht der Fall ist.

Ja, das ist richtig – hier verläuft die Tourismusentwicklung von innen heraus. Wird sie vom Kapital fremder Investoren gesteuert, sieht es meist nicht so positiv aus.

Was heisst für Sie fair unterwegs sein?

Fair unterwegs Reisende nehmen wahr, dass sie in eine fremde Welt eindringen, und tun dies verantwortlich. Sie begegnen den Menschen, die dort leben und arbeiten, mit Respekt, sind informiert, kennen die Hintergründe, wissen, auf was sie treffen und wie sie sich verhalten. Sie übernehmen auch Verantwortung für die Gebiete, in denen sie sich aufhalten.

Viele möchten aber im Urlaub einfach ausspannen und für einmal die Verantwortung vergessen. Sie sind schon das ganze Jahr über eingespannt und verantwortlich.

Der heutige Mensch hat die Tendenz, Urlaubserlebnisse zu kaufen, um seinen Urlaub zu optimieren. Aber auf diese Weise erlebt man lediglich austauschbare Standardprodukte oder gar nichts. Wichtig ist es, selbst zu erleben. Dafür muss man sich beschäftigen, Zeit haben. Wer einfach ein Urlaubsangebot kauft und bei Nichtgefallen zurückgibt, konsumiert und fühlt sich nicht verantwortlich. Gerade wer aber Menschen fremder Regionen und Kulturen kennenlernen möchte, muss verantwortlich und sensibel an die Reise herangehen. Solche Begegnungen kann man gerade nicht kaufen.

Ist es nicht so, dass viele Menschen das eigentlich wissen, aber dieses Wissen nicht umsetzen?

Diesen Gegensatz zwischen Wissen und Verhalten sehe ich so nicht. Gerade der Urlaub  ist stark von Emotionen bestimmt. Deshalb sollten wir nicht Wissen gegen Verhalten setzen, sondern angemessene Emotionen stärken. Zentrale Urlaubserlebnisse zu kaufen ist eine unangemessene emotionale Vorstellung. Dieser sollten wir die starke Emotion des Selbst-Erleben-Könnens entgegensetzen. Für die Fähigkeit zu erleben brauchen wir Zeit, müssen uns auf Unvorhersehbares einlassen, unsere eigene Wahrnehmung immer wieder in Frage stellen, Hintergründe wahrnehmen und offen sein für Neues. Dass derzeit die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit zerfliessen, ist dabei ein zusätzliches Hindernis: Unter der Hand erhält die Freizeit immer mehr Aspekte des Arbeitsprozesses und der Effizienzmaximierung. Das ist fürchterlich.

Wie gefällt Ihnen fairunterwegs.org?

Das Portal gefällt mir sehr gut. Es ist wichtig und notwendig, denn es liefert auf eine gute Weise alles, was es zur Vorbereitung auf einen nachhaltigen Urlaub braucht. Nur indem ich mich mit etwas aktiv beschäftige, lerne ich es besser kennen. Erst wenn man mehrmals dieselbe Region besucht hat, beginnt man sie zu verstehen und detaillierter wahrzunehmen. Dieser weghafte Prozess wird durch fairunterwegs.org unterstützt.

Seit den Siebzigerjahren setzen Sie sich für den Erhalt der Alpen ein. Hat es etwas gebracht?

Ja, unbedingt: Indem ich immer wieder gezeigt habe, dass es zwischen der grosstechnischen Erschliessung der Alpen und dem totalen Rückzug des Menschen aus den Alpen eine dritte Möglichkeit gibt, nämlich die dezentrale Nutzung der Alpen in umweltverträglichen Formen, habe ich neue Möglichkeiten aufgezeigt und vielen Menschen Mut gemacht. Und mit meinen Wanderbüchern für Regionen ohne Tourismus habe ich einen umwelt- und sozialverträglichen Tourismus gefördert und so eine Reihe von dezentralen Arbeitsplätzen gestärkt.    

Rolf Peter Sieferle «Rückblick auf die Natur. Eine Geschichte des Menschen und seiner Umwelt» (1997)Das empfohlene Buch: Rolf Peter Sieferle: Rückblick auf die Natur. Eine Geschichte des Menschen und seiner Umwelt. Luchterhand 1997, 233 Seiten, ISBN 978-3630879932  – ist zurzeit vergriffen. Mit einem Klick auf den Titel werden Sie auf eine Besprechung im Magazin Spektrum der Wissenschaft vom 01.11.1998 weitergeleitet.

Sie vertreten einen etwas anderen Ansatz.

Ja, ich finde Sieferles Ansatz überzeugend und anregend, aber einseitig. Ich möchte Lösungen entwickeln. Dabei zieht es mich nicht zurück in die Vergangenheit, aber ich gehe aus von der historischen Erfahrung, dass es möglich ist, die Natur tiefgreifend zu verändern und zu nutzen, ohne sie zu zerstören. Damit wende ich mich gegen die heute verbreitete Gleichsetzung von Naturnutzung = Naturzerstörung und von Nichtnutzung = Naturschutz. Ich zeige am Beispiel der Alpen konkret auf, dass wir Natur nutzen und gleichzeitig bewahren können.

Wie sieht das zum Beispiel aus?

Die bäuerlichen Kulturlandschaften sind starke ökologische Eingriffe in die Natur, die die Alpen stark verändern, aber nicht zerstören. Oder wenn wir den heutigen Tourismus nehmen: Ein dezentraler Tourismus in kleinen Strukturen kann umweltverträglich gestaltet werden, bei den grossen Tourismuszentren ist dies nicht möglich. Diese wachsen derzeit und verdrängen die kleinen und mittleren Anbieter vom Markt. Um den Alpentourismus umweltverträglich zu machen, braucht es deshalb eine Doppelstrategie: Die Tourismuszentren dürfen nicht weiter ausgebaut werden, und ausserhalb dieser Zentren muss ein dezentraler, umweltverträglicher Tourismus gestärkt werden.

Sind einem solchen Ausbaustopp nicht durch finanzstarke Investoren enge Grenzen gesetzt?

Ja, diesen Druck gibt es. Am grössten ist er bei der "Compagnie des Alpes/CDA", dem grössten Skigebietsbetreiber der Welt, der elf grosse Skistationen in den französischen Alpen und viele Sommer-Freizeitparks in ganz Europa besitzt. Da die potenzielle Zahl der Skifahrer in Europa zurückgeht – die Bevölkerung wird weniger und älter – verfolgt die CDA die Strategie, Skifahrer aus China in ihrer Skistationen zu holen. Die Olympischen Winterspiele 2022 finden ja in Peking statt und die chinesische Regierung hat versprochen, dass es bis dahin 300 Mio. Skifahrer in China geben soll. Deshalb bereitet die CDA eine finanzielle Zusammenarbeit mit dem chinesischen Konzern Fosun vor, der 2015 den "Club Mediterranée" gekauft hat, und in der Schweiz und in Österreich gibt es ähnliche Projekte. Auf diese Weise hofft man, den Skitourismus in den Alpen permanent weiter auszubauen – aber ein unendliches Wachstum ist im begrenzten Gebiet der Alpen gar nicht möglich, und sie sind heute schon für den Skitourismus übererschlossen.

Welche Forderungen an die Politik stellen Sie?

Kein weiterer Ausbau der Tourismuszentren – keine neuen Seilbahnen, Skigebietszusammenschlüsse, Hotelsiedlungen. Diese Forderung, welche die Alpenschutzkommission CIPRA an die Alpenkonferenz in Grassau/Bayern 2016 gestellt hat, muss in die breite Öffentlichkeit getragen werden.

Fürchten Sie sich vor einem Massentourismus wie in Goa oder Venedig?

Ja, weil solche Zentren heute schon Freizeit-Ghettos sind. Riesige Freizeitparks, die überall stehen könnten und die mit den Alpen nichts zu tun haben.

Was soll mit solchen Zentren geschehen?

Wenn der weitere Ausbau gestoppt ist, dann müssten sie sich auf einen ökologischen Umbau konzentrieren. Also auf eine Reparatur aller bestehender Umweltschäden und auf den Aufbau von orts- und regionstypischen Angeboten, die statt austauschbarer Freizeitparks die konkrete Natur, Geschichte und Kultur eines Alpentals ins Zentrum stellen.

Und wie wollen Sie ausserhalb der Zentren die Abwanderung aus den Bergdörfern stoppen?

Ausserhalb der Zentren sollte der Tourismus dezentral in nicht-technisierten Formen aufgewertet werden, um einen Wander-, Natur- und Kulturtourismus zu ermöglichen und eine höhere Wertschöpfung zu ermöglichen. Der Tourismus soll dabei keine Monostruktur sein, sondern die bestehenden Einkommensquellen auf umwelt- und sozialverträgliche Weise ergänzen. So können die heute so wichtigen dezentralen Arbeitsplätze gestärkt werden. Der Besuch des Alpenraums wird dann zu einer emotional-sinnlichen Naturerfahrung, bei der man die beiden Seiten von Natur erlebt: Vielfalt und Bedrohung. Gerade für Menschen, die in ihrer Berufs- und Alltagswelt immer naturferner leben, stellen diese Erlebnisse eine grosse Bereicherung dar.

Gibt es dazu ein gutes Beispiel?

Solche Beispiele gibt es viele, etwa die Grande Traversata delle Alpi, ein italienischer Weitwanderweg, der in rund 1000 km den gesamten piemontesischen Westalpenbogen durchzieht. Oder das Ötschergebiet in Niederösterreich: Am Eingang zu den Ötschergräben entstand in Zusammenarbeit mit der Niederösterreichischen Landesausstellung 2015 ein neues ökologisches Naturparkzentrum direkt am Stausee in Wienerbruck und an der Mariazeller Bahn. Im Lesach-Tal in Kärnten leben die meisten der rund 1300 Einwohner von der Land- und Forstwirtschaft, ein sanfter Bergsteiger- und Wildwassertourismus ergänzt die Wirtschaftsaktivitäten. Oder die "Bergsteigerdörfer" in den österreichischen und bayerischen Alpen, der "Walserweg Graubünden", die "Via Alpina" usw. Die grösste Schwierigkeit liegt darin, dass diese vielen guten Beispiele unverbunden nebeneinander stehen, es gibt keinen Zusammenhang.

Sie halten die Tourismusentwicklung in den Alpen für exemplarisch für Tourismusentwicklung überhaupt. Inwiefern?

Die Alpen sind eine alte Tourismusregion, wo die Bevölkerung den Umgang mit den Tourismus allmählich lernen konnte. Nehmen wir wieder das Beispiel des Gasteiner Tals. Schon im Mittelalter reisten Badetouristen an, eine Art Massentourismus begann bereits in der Postkutschen-Zeit. In diesem Tal haben die Menschen gelernt, wie man Distanz zum Tourismus hält. Schon 1983 entschieden die Bergbahnen, die Skigebiete nicht weiter auszuweiten, sonst werde das Tal total vom Tourismus dominiert und sie völlig davon abhängig. In den Siebzigerjahren machte man Erfahrungen mit den Zweitwohnungen – und dass diese dem Tal nichts bringen, weshalb man ihren Bau limitierte. Teile des Brauchtums werden in Gastein heimlich ausgeübt, damit es nicht touristisch ausgeschlachtet werden kann. Die grossen Erntedankprozessionen mit allen Vereinen in Tracht stehen nicht in den Tourismusprospekten und bei ihnen stehen die Einheimischen im Zentrum.

Aber das ist nur möglich, wo die Bevölkerung aktiv die Tourismusentwicklung steuern kann, was in vielen Tourismusdestinationen nicht der Fall ist.

Ja, das ist richtig – hier verläuft die Tourismusentwicklung von innen heraus. Wird sie vom Kapital fremder Investoren gesteuert, sieht es meist nicht so positiv aus.

Was heisst für Sie fair unterwegs sein?

Fair unterwegs Reisende nehmen wahr, dass sie in eine fremde Welt eindringen, und tun dies verantwortlich. Sie begegnen den Menschen, die dort leben und arbeiten, mit Respekt, sind informiert, kennen die Hintergründe, wissen, auf was sie treffen und wie sie sich verhalten. Sie übernehmen auch Verantwortung für die Gebiete, in denen sie sich aufhalten.

Viele möchten aber im Urlaub einfach ausspannen und für einmal die Verantwortung vergessen. Sie sind schon das ganze Jahr über eingespannt und verantwortlich.

Der heutige Mensch hat die Tendenz, Urlaubserlebnisse zu kaufen, um seinen Urlaub zu optimieren. Aber auf diese Weise erlebt man lediglich austauschbare Standardprodukte oder gar nichts. Wichtig ist es, selbst zu erleben. Dafür muss man sich beschäftigen, Zeit haben. Wer einfach ein Urlaubsangebot kauft und bei Nichtgefallen zurückgibt, konsumiert und fühlt sich nicht verantwortlich. Gerade wer aber Menschen fremder Regionen und Kulturen kennenlernen möchte, muss verantwortlich und sensibel an die Reise herangehen. Solche Begegnungen kann man gerade nicht kaufen.

Ist es nicht so, dass viele Menschen das eigentlich wissen, aber dieses Wissen nicht umsetzen?

Diesen Gegensatz zwischen Wissen und Verhalten sehe ich so nicht. Gerade der Urlaub  ist stark von Emotionen bestimmt. Deshalb sollten wir nicht Wissen gegen Verhalten setzen, sondern angemessene Emotionen stärken. Zentrale Urlaubserlebnisse zu kaufen ist eine unangemessene emotionale Vorstellung. Dieser sollten wir die starke Emotion des Selbst-Erleben-Könnens entgegensetzen. Für die Fähigkeit zu erleben brauchen wir Zeit, müssen uns auf Unvorhersehbares einlassen, unsere eigene Wahrnehmung immer wieder in Frage stellen, Hintergründe wahrnehmen und offen sein für Neues. Dass derzeit die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit zerfliessen, ist dabei ein zusätzliches Hindernis: Unter der Hand erhält die Freizeit immer mehr Aspekte des Arbeitsprozesses und der Effizienzmaximierung. Das ist fürchterlich.

Wie gefällt Ihnen fairunterwegs.org?

Das Portal gefällt mir sehr gut. Es ist wichtig und notwendig, denn es liefert auf eine gute Weise alles, was es zur Vorbereitung auf einen nachhaltigen Urlaub braucht. Nur indem ich mich mit etwas aktiv beschäftige, lerne ich es besser kennen. Erst wenn man mehrmals dieselbe Region besucht hat, beginnt man sie zu verstehen und detaillierter wahrzunehmen. Dieser weghafte Prozess wird durch fairunterwegs.org unterstützt.

Seit den Siebzigerjahren setzen Sie sich für den Erhalt der Alpen ein. Hat es etwas gebracht?

Ja, unbedingt: Indem ich immer wieder gezeigt habe, dass es zwischen der grosstechnischen Erschliessung der Alpen und dem totalen Rückzug des Menschen aus den Alpen eine dritte Möglichkeit gibt, nämlich die dezentrale Nutzung der Alpen in umweltverträglichen Formen, habe ich neue Möglichkeiten aufgezeigt und vielen Menschen Mut gemacht. Und mit meinen Wanderbüchern für Regionen ohne Tourismus habe ich einen umwelt- und sozialverträglichen Tourismus gefördert und so eine Reihe von dezentralen Arbeitsplätzen gestärkt.    

Rolf Peter Sieferle «Rückblick auf die Natur. Eine Geschichte des Menschen und seiner Umwelt» (1997)Das empfohlene Buch: Rolf Peter Sieferle: Rückblick auf die Natur. Eine Geschichte des Menschen und seiner Umwelt. Luchterhand 1997, 233 Seiten, ISBN 978-3630879932  – ist zurzeit vergriffen. Mit einem Klick auf den Titel werden Sie auf eine Besprechung im Magazin Spektrum der Wissenschaft vom 01.11.1998 weitergeleitet.