Niodior ist eine kleine Insel im Atlantik vor der Küste Senegals. Es ist die Heimat der Autorin, die vor zehn Jahren nach Strassburg auswanderte. Fatou Diome hat sich im Roman „Der Bauch des Ozeans“ als Salie verewigt: Salie lebt in Frankreich, ihr Bruder Madické träumt davon, zu ihr zu kommen. Für ihn ist Frankreich das verheissene Land, in dem die senegalesischen Fussballspieler Erfolg haben und wohin Frauen wie die schöne Sankhele oder Männer wie der arme Moussa ihrem Schicksal entfliehen. Schwierig, ihn und seine Kameraden daran zu hindern, Luftschlösser zu bauen, wenn der Mann aus Barbès nach seiner Rückkehr nach Niodior zum Notablen wird, indem er sein wirkliches Leben als Emigrant unterschlägt und Frankreich als Land der unbegrenzten Möglichkeiten darstellt. Die Beziehung zwischen Madické und Salie zeigen uns die ungemütliche Situation der „venus en France“, der „nach Frankreich Gekommenen“ auf, welche schier erdrückt von den Erwartungen der in der Heimat Zurückgebliebenen sich der Schwierigkeit stellen müssen, dauernd als „der Andere“ und „die Andere“ wahrgenommen zu werden. Der „Bauch des Ozeans“ zeigt die unterschiedlichen Schicksale und Gefühlslagen der Geköderten oder von Hoffnung nach Europa Getriebenen. Die Bedingungen in Niodior machen den Ruf der Ferne unwiderstehlich, denn das Leiden jener, die bleiben, ist unsäglich. Doch auswandern heisst Abschied nehmen, dahinsegeln, frei wie eine Alge im Atlantik. Fatou Diome besticht mit einem absolut gelungenen Erstlingsroman. Konzessionslos und unpathetisch, wo es um heisse Themen geht, etwa die Polygamie in einer Gesellschaft, in der die Frau kaum Rechte hat und in der Männlichkeit noch immer an der Schar der Kinder gemessen wird, auch wenn sie nur zur weiteren Verelendung beitragen – Zustände, welche die Autorin als uneheliches Kind am eigenen Leib erfahren hat. Analytisch in der Beschreibung der Verhältnisse. Aber gleichzeitig reich an poetischen Bildern, Humor und liebenswürdiger Ironie. Das Buch ist ein guter Hintergrund zur Asyldiskussion, ein poetischer Nebenklang zur Fussball-WM und eine erfrischende und bereichernde Ferienlektüre.

Diogenes Taschenbuch, 2006, 274 Seiten, SFr. 14.90, ISBN 3-257-23521-6
Originalausgabe: Le Ventre de l’Atlantique, Ed. Anne Carrière Paris 2003, 255 Seiten, Euro 6.-