Der Winterthurer Fotograf Manuel Bauer ist bekannt für seine Arbeiten über Indien, Tibet und die Menschen im tibetischen Exil. Vor einigen Jahren erhielt er vom Dalai Lama die Erlaubnis, ihn über längere Zeit auf zahlreichen Reisen fotografisch zu begleiten. Dabei entstanden aussergewöhnliche, zum Teil sehr persönliche Bilddokumente über eine der ganz grossen Persönlichkeiten unserer Zeit.
Um die Verzweiflung über die chinesische Herrschaft in Tibet aufzuzeigen, begleitete Manuel Bauer bei einem anderen Projekt die Flucht eines Vaters mit seiner Tochter von Tibet nach Indien. Im Gespräch mit Andy Keller erzählt er von seiner Arbeit, die mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde, so unter anderem mit dem «World Press PhotoAward» und dem «Picture of the Year Award». In der folgenden gekürzten Version des Interviews, welches im Globetrotter-Magazin, Winter 2008 erschienen ist, geht es um die Flucht aus Tibet.*

Andy Keller: Im März sind es 50 Jahre her, seit der Dalai Lama aus Tibet nach Indien geflüchtet ist. Ein anderes Projekt von dir, das einige Jahre zurückliegt, erinnert an diese Flucht, aber auch an das Schicksal der Tibeter im besetzten Tibet. Du hast vor über zehn Jahren die Flucht eines Vaters mit seiner Tochter nach Nepal und Indien begleitet und dokumentiert. Wie kam es dazu?
Manuel Bauer: Ich hatte die Idee, eine Flucht zu begleiten, schon lange. Bei den Recherchen zu meiner Arbeit wurde ich immer wieder mit der schlimmen Situation der Tibeter in Tibet konfrontiert. Ich konnte vor Ort diese Zustände aber nicht fotografisch dokumentieren, da Chinesen Journalisten nicht frei arbeiten lassen. Die Tatsache, dass auch nach Jahrzehnten chinesischer Besetzung immer noch viele Tibeter ihr Leben riskieren, um aus ihrer Heimat zu flüchten, war für mich der Beweis, dass die Repression gross ist.

Wann war es schliesslich so weit?

Lange hatte ich Angst vor dieser Geschichte, denn sie war sehr riskant und würde mir alles abverlangen. Dann aber wollte Dieter Bachmann, Chefredaktor der Zeitschrift «Du», ein Tibet-Heft mit mir machen, und ich entschied, dass nun der Zeitpunkt gekommen sei, meine Idee umzusetzen. Ich bereitete mich über ein Jahr lang intensiv vor, informierte mich, sprach mit Flüchtlingen in Indien und Nepal, und im Frühling 1995 war es schliesslich so weit.

Hattest du Helfer in Tibet?

Ich hatte zuvor immer allein auch unter schwierigen Bedingungen gearbeitet, doch diesmal wollte ich mir zum ersten Mal einen lokalen Guide organisieren. Das hat dann aber nicht geklappt. Die einen konnten nicht, andere hatten Angst. Verständlich, denn es gibt viele Spitzel, und ein Auffliegen der Flucht hätte für Einheimische, aber auch für mich schlimme Konsequenzen gehabt. Ich musste extrem vorsichtig sein und wollte niemanden gefährden. Die Strasse nach Tibet war zu jenemZeitpunkt zugeschneit, so musste ich zuerst zu Fuss nach Tibet gelangen. Zu einer Tibeterin hatte ich ein grosses Vertrauensverhältnis, und sie hat dann in Lhasa aktiv Flüchtlinge für mich gesucht.

War für dich von Anfang an klar, dass es eine kleine Gruppe sein sollte?
Eigentlich war ich darauf vorbereitet, eine grössere Gruppe von Flüchtlingen zu begleiten, denn das ist der «Normalfall». Doch dann vermittelte mir meine Vertrauensperson einen Vater mit einem sechsjährigen Mädchen.

Warum wollten die beiden aus Tibet flüchten?
Wenn Eltern in Tibet ihre Kinder in tibetische Schulen schicken, haben diese keine Zukunft. Denn alle höhere Bildung wird in chinesischer Sprache vermittelt. Die Eltern stehen also vor der Wahl, ihr Kind entweder ungenügend oder zum «Chinesen» ausbilden zu lassen. Aus dieser Not heraus entscheiden sich viele Eltern, ihren Kindern eine moderne tibetische Bildung im Exil zu ermöglichen. Die Verzweiflung und der Wunsch, es möge den Kindern besser als den Eltern gehen, ist so gross, dass sie das Risiko der Flucht in Kauf nehmen.
Wie lange hat die Flucht gedauert?
Wir waren insgesamt einen Monat zusammen, fortbewegt haben wir uns während 21 Tagen – in Verkehrsmitteln und zu Fuss. Um unverdächtig aus Lhasa hinauszukommen, haben wir die Flucht als die Pilgerfahrt eines Vaters mit seiner Tochter getarnt. So kamen wir zu einem Passierschein für Westtibet. Mit einem Lastwagen fuhren wir dann nach Tingri. Der gefährlichste Teil – der Fussmarsch über den 5700 Meter hohen Nangpa-Pass nach Nepal – dauerte sieben Tage.
Welchen Einfluss hatte deine Anwesenheit auf die Flucht?
Ich passte mich ihrem Rhythmus an und versuchte, die Flucht authentisch zu dokumentieren. Der Vater bestimmte den Tagesablauf, die Länge der Etappen, die Schlafplätze. Ich wollte auf keinen Fall Einfluss nehmen, denn wären wir von einer chinesischen Patrouille aufgegriffen worden, hätte ich mir schwere Vorwürfe machen müssen. Und doch war ich natürlich Teil dieser Schicksalsgemeinschaft.

Wie gross war die Angst, entdeckt zu werden?
Sehr gross. Das führte dazu, dass Vater und Tochter beim Fussmarsch über den Pass nach Nepal sehr schnell unterwegs waren, und dies bis zu 16 Stunden pro Tag. Für mich war das extrem anstrengend, denn ich wollte ja auch fotografieren. Dazu musste ich manchmal vorauseilen oder mich zurückfallen lassen und dann wieder aufholen. Wir haben uns tagelang nicht mal Zeit genommen, zu essen und zu trinken. Wir hatten weder einen Wasserkocher, um Schnee zu schmelzen, noch ein richtiges Zelt dabei. Diese Umstände erschöpften uns enorm stark. Eine sehr gefährliche Situation bei Temperaturen um minus 20 Grad.

Warum hast du keine bessere Ausrüstung mitgenommen?
Ich habe mich so gut ausgerüstet, wie es ging, musste aber aufs Gewicht achten. Wir konnten ja wegen der Geheimhaltung keine Träger mitnehmen.
Zum Glück hatte ich aber eine Art Notzelt aus windundurchlässigem Material dabei. Eigentlich war es mehr ein Stück Stoff als ein Zelt, aber wir konnten uns nachts damit einwickeln, und dies hat uns wohl vor gravierenderen Erfrierungen bewahrt.

Das sechsjährige Mädchen hatte die Kraft, weiterzumachen?
Ja, sie zeigte einen ungeheuren Überlebenswillen. Und nicht nur das. In Momenten der totalen Erschöpfung, wenn es einfacher gewesen wäre, sich hinzusetzen und einfach einzuschlafen, um zu sterben, hat sie mich mit ihrer Power weitergezogen. Dank ihr wollte ich überleben, um später ihre Geschichte erzählen zu können.

Schliesslich ist alles gut gegangen, und ihr seid im nepalesischen Namche Bazar eingetroffen.
In Sicherheit waren wir aber noch nicht, denn man kann immer noch über die Grenze zurückgeschickt werden. Ich gab mich deshalb als Trekker aus, der mit einem Sherpa und seiner Tochter unterwegs war. Es gelang uns, Helikoptertickets nach Kathmandu zu ergattern, und dadurch blieb uns ein zwölftägiger Fussmarsch erspart. In Kathmandu bestiegen wir den Bus eines UN-Flüchtlingshilfswerks nach Indien. Dann ging es mit lokalen Verkehrsmitteln via Delhi nach Dharamsala. Aber auch der letzte Teil der Flucht war noch eine traurige Odyssee, denn korrupte Beamte nehmen die Flüchtlinge aus, bis nichts mehr da ist.

Endlich am Ziel zu sein, muss für Vater und Tochter ein bewegender Moment gewesen sein.
Bereits ein Tag nach der Ankunft gab der Dalai Lama eine Audienz für die Neuankömmlinge. Dem Vater rollten Freudentränen übers Gesicht, als der Dalai Lama der Kleinen eine Kata über die Schultern legte.
Hast du heute – 12 Jahre nach der Flucht – noch Kontakt zu ihnen?
Zum Vater möchte ich aus Sicherheitsgründen nichts sagen. Das Mädchen sehe ich jedes Mal, wenn ich in Indien bin. Sie hat die Schulen in Dharamsala absolviert und kürzlich ein Praktikum in einem grossen Hotel in Goa begonnen. Es geht ihr gut.

Wie schätzt du die Situation in Tibet heute ein?
Die Situation ist schlimm und sehr traurig. Ehrlich gesagt, bin ich nicht sehr hoffnungsvoll, denn China zeigt kein Interesse, Konzessionen zu machen. Andererseits sind die Chinesen immer dann für eine Überraschung gut, wenn sie – entgegen eigenen Überzeugungen – einen Vorteil für sich herausholen können. Die chinesische Führung hat in den letzten Jahren die Schraube brutal angezogen. Sie wollte vor der Olympiade alles unter Kontrolle bekommen, und die Repression wurde so massiv, dass sich die Tibeter wehren mussten und zu protestieren begannen. Sehr eindrücklich war, wie das tibetische Volk weltweit geschlossen reagierte. Viele Tibeter – auch im Ausland – haben realisiert: Wir sind ein Volk. Nach so vielen Jahren der Besetzung gibt dies wieder viel Kraft und Energie im Widerstand. Als ich das letzte Mal in Tibet war, spürte ich noch eine grosse Ohnmacht, doch die harte Haltung der chinesischen Führung hat viel Identifikation im tibetischen Volk geschaffen. Die Chinesen haben sich damit einen Bärendienst erwiesen. Das ist das Positive in der momentan schwierigen Zeit.
Im März 2009 erscheinen im Limmat-Verlag zwei Bücher mit Fotos von Manuel Bauer. Ein Buch mit 12 Fluchtgeschichten von in der Schweiz lebenden Tibetern und das Buch "Flucht aus Tibet".
Manuel Bauer zeigt im März 2009 seine Live-Reportage "Flucht aus Tibet" in 15 grösseren Schweizer Städten 

*Wiedergabe des Interviews und der Bilder mit freundlicher Genehmigung von Globetrotter.