„Flügelschlag des Schmetterlings“
Frau Grünfelder, wie entstand die Idee zum Sammelband „Flügelschlag des Schmetterlings“?
Das Stichwort dazu, all die wunderbaren Texte in einem Band zu versammeln, gab mit der tibetische Autor Alai, der meinte, die Tibeter lebten mittlerweile wie die jüdische Diaspora verteilt auf der ganzen Welt und sprächen auch keine gemeinsame Sprache mehr. Als ich dann eine ähnliche Äusserung bei Tsering Öser fand, war die Idee zu diesem Buch geboren.
Was ist mit dem Titel des Buches gemeint?
Ich fand die Vorstellung geradezu berückend, dass man auch mit kleinen Aktionen grosse Wirkungen erzielen kann, die man dem Flügelschlag eines Schmetterlings in der Chaostheorie zuschreibt. Wer weiss, vielleicht bewirkt unser Engagement im Kleinen doch, dass sich etwas ändert in der „grossen“ Weltpolitik? Ich erinnere mich auch noch sehr gut an eine Gespräch mit jungen Exiltibetern in Nepal, die angesichts meines Pessimismus bezüglich der Zukunft Tibets meinten, dass Mitte der Achtzigerjahre auch niemand gedacht hätte, dass die Berliner Mauer eines Tages fallen würde.
Was unterscheidet tibetische SchriftstellerInnen aus Tibet von jenen, die im Exil leben?
Die Autoren, die in China leben, müssen mit der Zensur umgehen, was sie auf unterschiedliche Art und weise tun. Entweder sie verklausulieren ihre Texte auf höchst anspruchsvolle literarische Art und Weise, oder sie schreiben einfach über den Alltag in China, und zwischen den Zeilen weiss man als geübter Leser die verborgenen Realitäten zu entdecken.
Ausgerechnet im Exil aber tendiert man zur Schwarz-Weiss-Malerei. Oft genug fehlen den jüngeren Tibetern wirkliche Kenntnisse darüber, was es bedeutet, heute in Tibet zu leben, ja sie käuen unreflektiert tibetische Propaganda wider. Ich war überrascht und auch enttäuscht über das eher niedrigere literarische Niveau bei Exil-Schriftstellern, was sicherlich auch damit zu tun hta, dass i8m Exil Literatur keine wichtige Rolle spielt, weil politische und religiöse Themen das Leben der Tibeter im Exil bestimmen.
Welche Stellung hat die tibetische Literatur in China, bei den Tibetern und auf dem weltweiten Literaturmarkt?
Die tibetische Literatur in China wird ein wenig gepflegt und gehätschelt im folkloristischen Sinne. Man ist stolz darauf, so viele „Minderheiten“ in der Familie der Han-Chinesen begrüssen zu dürfen, und mit wohlwollender positiver Diskriminierung reagiert man auf Nationalitätenliteratur. Es gibt gesonderte Literaturzeitschriften, Institute etc. Aber: Man nimmt sie nicht wirklich ernst.
Angesichts der hohen Analphabetenrate unter den Tibetern selbst sind die Tibeter meiner Meinung nach ein wenig verzweifelt über die mangelnde Rezeption ihrer Werke, wenn sie auf Tibetisch schreiben. Auf dem weltweiten Literaturmarkt konnte sich nur der tibetische Autor Alai einen Namen machen, weil er auch das Klischee von Tibet hinterfragt, wie es im Westen kursiert. Tsering Öser erlangte traurige Berühmtheit, weil ihre Bücher in China verboten sind und sie selbs6t unter strenger Beobachtung von Seiten der chinesischen Behörden steht.
Wird Ihr Buch an der Frankfurter Buchmesse, welche dieses Jahr das Gastland China begrüsst, präsentiert werden?
Ja, wenngleich ausserhalb des offiziellen China-Programms. Doch China hat so ein problematisches Image, weshalb ich hoffe, dass sich die Besucher der Messe gerade für die nicht-offiziellen Stimmen aus China interessieren werden. Ich finde, für Bücher über und aus Tibet bietet dieser Buchmessen-Schwerpunkt die Chance, auch kontroverse Diskussionen anzuregen, die man ansonsten nur noch mit einem müden Lächeln verfolgt.
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Alice Grünfelder
Die Herausgeberin studierte nach einer Buchhändlerlehre und einem Asienaufenthalt Sinologie und Germanistik. Zwei Jahre lang lebte sie in Chengdu, Provinz Sichuan in China. Zahlreiche Reisen führten sie nach Tibet. Heute lebt und arbeitet sie als Lektorin und Literaturvermittlerin in Zürich.
Alice Grünfelder: Flügelschlag des Schmetterlings: Tibeter erzählen. Unionsverlag. Erstausgabe: 22.07.2009, Mit Texten von Alai, Jamyang Norbu, Tsering Öser, Tenzin Tsundue und vielen anderen.
Die Frankfurter Buchmesse 2009 findet vom 14. bis 18. Oktober statt. Ehrengast ist China.
Informationen zur Frankfurter Buchmesse
Zur Besprechung des Buches vonAlice Grünfelder, Lucien Leitess (Hrsg.): Der neue Kulturkompass zu Burma – ein Schlüssel zum VerständnisDer Beitrag erschien in VOCE 1/2009, dem Magazin der Gesellschaft für bedrohte Völker Schweiz. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.