"Willst du mich nicht heiraten, schöne Frau?"
Ich sitze mit einem süßen Pfefferminztee in der Hand in einem Gewürzladen in den Suks von Marrakesch und starre den alten Mann ungläubig an. Seine schwarzen Augen blitzen schelmisch unter dem weissen Turban hervor. Ich überlege, wie ich mich aus dieser peinlichen Situation befreien könnte. Am Besten mit Humor. So grinse ich ihn an und frage:
"Was hättest du denn zu bieten, alter Mann?"
Er richtet sich zu seiner vollen Grösse auf und antwortet stolz:
"Ich besitze ein Kamel. Es ist zwar alt, aber sehr hübsch und treu. Das könntest du haben, wenn du mich heiratest!"
Nach weiteren Verhandlungen lässt mich der alte Mann ziehen, aber erst, nachdem er mir einige Beutel seiner besten Gewürze schenken durfte.
Nicht immer verläuft das Spiel zwischen Mann und Frau so harmlos und wertschätzend wie damals im Gewürzladen. Durch das Publizieren einiger Reisegeschichten bekam ich viele E-Mails von Frauen, die mich fragten, wie ich auf meinen Reisen mit sexuellen Belästigungen umgehe, und ob es nicht zu gefährlich sei, alleine durch Länder wie Marokko und Indien zu streifen. Deshalb möchte ich hier meine Erfahrungen mit euch teilen.
Indien hat mich an meine Grenzen gebracht. Als 22-Jährige bin ich sehr naiv in dieses Land gereist, nachdem ich bereits in ’sicheren› Ländern wie Amerika, Neuseeland und Australien unterwegs war. Es war mir nicht wirklich bewusst, dass in Indien eine völlig andere Kultur herrscht, in der die Menschen eine andere Denkweise haben. In Amerika konnte ich einem Mann in mir vertrauter Weise klar machen, wo meine Grenzen sind. Aber was, wenn diese Mechanismen nicht funktionieren? Wenn Männer nicht respektieren, was eine Frau sagt?
Ich erinnere mich lebhaft daran, wie meine Freundin und ich die einzigen Frauen in einem ganzen Zugwagon waren. Es war eine Nachtfahrt und wir lagen auf schmalen Pritschen. Ich erwachte, weil jemand meine Brüste begrapschte. Als ich realisierte, was vor sich ging, stiess ich die Hände des Mannes weg und schrie ihn an, er solle das gefälligst lassen. Er lachte nur. Kaum waren meine Augen wieder zugefallen, weckten mich seine Hände erneut. Es blieb mir nichts anderes übrig, als aufzustehen. Meine Freundin hatte mit demselben Problem zu kämpfen und so setzten wir uns in den Gang. Wir fühlten uns sehr einsam, weil viele Männer zugesehen hatten und so taten, als wäre nichts geschehen. Weit und breit war kein Zugbegleiter in Sicht. Hätte er uns Sicherheit gegeben oder etwa ebenso zur Seite geschaut?
Damals reisten wir in der 3. Klasse. Wir waren jung und wollten möglichst wenig Geld ausgeben. Heute weiss ich, dass es in Indiens Zügen extra Frauenabteile gibt. Erfahrungen wie diese haben mich dazu gebracht, meine Augen zu öffnen und aufmerksamer zu werden. Ich erachte es als wichtig, das ganze Bild zu betrachten, kulturelle Begebenheiten kennenzulernen, statt einzelne Männer zu verurteilen, die eine Situation ausnutzen wollen.
Auch von Marokko möchte ich berichten. Als temperamentvolles Volk werden die Marokkaner bisweilen als aufdringlich erlebt. Abgesehen von den Versuchen, mir auf überaus aggressive Weise etwas verkaufen zu wollen, bin ich in den Städten Marokkos nie belästigt worden. Mehr Probleme hatte ich mit der Dorfjugend in ländlichen Gebieten. Auch diese Jungen kennen westliche Filme, und wenn sie eine weisse Frau sehen, wollen sie endlich mal ‹üben›. Frauen und Männer leben in Marokko – wie auch in Indien – bis zur Heirat getrennt, Sex vor der Ehe ist tabu. So kommt dann eine allein reisende Touristin sehr gelegen. Die meisten Jungs baten mich um einen Kuss. "Bitte, bitte, nur mal küssen!" Sie ließen sich leicht vertreiben, indem ich sie wütend anblickte und ihnen klar machte, sie sollen verschwinden.
Nur einer wagte es, mich von hinten zu packen und sich an mir zu reiben. Ich war überrumpelt, versuchte, ihm meinen Ellbogen in die Rippen zu stoßen – leider erfolglos. Er war stärker als ich. Angst befiel mich, aber gleichzeitig stieg auch Zorn in mir auf. Mein volles Bewusstsein, dass dieser Körper mir gehört und dass ich allein bestimme, was mit ihm geschieht, äußerte sich in einer brachialen Wut, die mir einen Kraftschub verlieh. Es gelang mir, einem Stein am Boden aufzuheben, worauf der Mann von mir abliess. Ich schrie und warf den Stein nach ihm. Rasch machte er sich aus dem Staub. Danach setzte ich mich unter einen Baum. Erst nach geraumer Zeit hörte das Zittern auf.
Ich bin sehr dankbar, dass dieses Erlebnis ein glückliches Ende fand. Manchen Frauen gelingt es nicht, sich zu wehren, und sie werden unter Umständen vergewaltigt. Das Einzige, was wir tun können ist, wach zu sein und solchen Situationen vorzubeugen. Glücklicherweise lässt die Intuition uns oftmals einen anderen Weg gehen, um uns zu beschützen. Beschleicht mich in einer Situation die Angst, so frage ich mich, was diese Angst mir sagen will. Dann unternehme ich etwas, damit ich mich sicherer fühle. Beispielsweise habe ich mir in Indien landestypische Kleider gekauft und das Kopftuch getragen. So konnten die Männer zumindest von hinten nicht erkennen, dass ich eine europäische Frau bin. In Marokko habe ich mich nie lange allein mit einem Mann unterhalten. Ich antwortete freundlich, verhielt mich aber kurz angebunden, außer ich kannte jemanden wirklich schon länger und vertraute ihm. Am Rande der Wüste Sahara fragte ich die einheimischen Frauen, mit wem sie alleine in die Wüste gehen würden, und so fand ich einen Führer, der sehr anständig und aufrichtig war.
Es scheint, als wäre es uns Frauen oftmals gar nicht bewusst, welche Signale wir aussenden. Ich bin eine offene Person, die schnell lacht und den Menschen gerne in die Augen blickt. Genau das kann aber sehr einladend auf die Männer wirken – vor allem in Kulturkreisen, in denen ein direkter Blick in die Augen eines Mannes eigentlich ein Tabu ist. Geschenke werden auch nicht überall gleich interpretiert. Einmal kaufte ich für einen Reiseführer Zigarettenpapier, weil ich nicht länger mit ansehen konnte, wie er Papier von einem Kandiszuckerstock abklaubte, um damit seinen Tabak einzurollen. Schlagartig veränderte der Beschenkte sein Verhalten mir gegenüber und war der festen Überzeugung, dass ich nun seine Freundin sei. Es dauerte lange, bis ich ihm das wieder ausreden konnte. Erst später erfuhr ich von einer Einheimischen, dass jegliche Geschenke an Männer als Angebot für eine Beziehung gelten. So war ich wieder, um eine wertvolle Erkenntnis reicher.
Ich bereue keine meiner Reiseerfahrungen, denn ich habe viel daraus gelernt und bin stärker und selbstsicherer geworden. Auch wenn man als allein reisende Frau ein gewisses Risiko eingeht, erachte ich es nicht als sinnvoll, aus Angst zu Hause zu bleiben. Wenn ich auf die vielen Reisemonate, in denen ich alleine unterwegs war, zurückblicke, kann ich doch die unangenehmen Erfahrungen an zwei Händen abzählen. Die vielen wunderschönen Momente, in denen ich mich wohl fühlte, überwiegen definitiv.
Hoffentlich tragen meine Geschichten und Gedanken dazu bei, dass Frauen den Mut fassen, auch alleine zu reisen, dabei wach zu sein und sich in die fremde Kultur einzufühlen. Ich will betonen, dass wir uns für die negativen Erlebnisse, die wir durchleben, nicht schämen müssen. Es ist unmöglich, sich vor allen Gefahren des Lebens zu schützen.
Dieser Beitrag entstammt dem Globetrotter-Magazin vom Frühling 2014 und erscheint mit freundlicher Genehmigung.


Katrin Staub ist 1979 in Bern geboren und im Zürcher Oberland aufgewachsen. Sie lebt heute nicht ortsgebunden, aber die meiste Zeit in Chiavenna, Italien. Seit dem 22. Lebensjahr bereist sie regelmässig verschiedene Erdteile und empfindet das Reisen als eine wundervolle Möglichkeit, zu lernen und in der Persönlichkeit zu wachsen. Die diplomierte Pflegefachfrau und diplomierte Kinesiologin betreibt ihre eigene Praxis in Pfäffikon ZH. Als Autorin greift sie ernste Themen auf, legt viel Wert auf Leichtigkeit und Humor und bereichert ihre Erzählungen mit persönlichen Reiseerlebnissen.