cfd: Was waren Ihrer Meinung die Ursachen für die Umwälzungen in Tunesien und Ägypten?
Elham Manea: Die Gesellschaften haben genug von einem korrupten politischen System, von einer Regierung, die ihnen keine Freiheiten gewährte und von politischen Eliten, die sich verhalten haben, als ob sie das Land besässen. Im arabischen Raum sind fast 60% der Bevölkerung jünger als 24 Jahre. Es sind sehr junge Männer und Frauen, häufig ohne Arbeit, ohne Perspektiven für ihre Kinder und ihre Zukunft. Dazu kamen die neuen Technologien, mit denen sich die Menschen sehr gut mobilisieren und informieren konnten, was an anderen Orten der Welt passierte. All dies kam zusammen und verkörperte sich in einer Person, dem Tunesier Mohammed Bouazizi, der sich verbrannt hat. Dieser Akt hat die Menschen mit ihrer Realität konfrontiert.
Welche Rolle spielt die Bildung für den Beginn der Demonstrationen?
In Ägypten war bei den jungen Männern und Frauen, die auf die Strasse gegangen sind, der Ausbildungsfaktor klar und deutlich. Sie sind gut ausgebildet, sie kommen aus der Mittelschicht oder Oberschicht und sie haben den Anstoss gegeben und die Basis für die breiten Proteste gelegt. Mit ihren Demonstrationen haben sie die Angst gebrochen, die vorher herrschte. Deshalb beteiligten sich in Tunesien und Ägypten immer mehr Menschen mit ganz unterschiedlichem Hintergrund: arm, reich, Christ, Kopt, Muslim, Atheisten, alle haben mitgemacht, und das war sehr inspirierend.
Was war bei diesen verschiedenen Hintergründen das vereinende Element?
Sie wollen eine Veränderung, sie wollen, dass ihre Regierung geht. Diese Forderung haben die Menschen in einer Person gebündelt: «Geh, Hosni Mubarak, oder geh, Ben Ali.» Das war das Ziel, das sie vereint hat. Die Frage ist, was passiert nun? Wenn eine Person geht, heisst das nicht, dass sich das gesamte System verändert.
Wofür haben die Frauen demonstriert?
Für sie war es eine Revolution der Menschen und sie haben sich beteiligt, weil auch sie die Ideen von Veränderung, einer besseren Zukunft, von Freiheit und Demokratie unterstützen. Die Frage ist, wie erreichen die Frauen, dass eine neue Regierung auch ihre Rechte als gleichwertige Bürgerinnen respektiert? Interessant ist, die Entwicklungen historisch unter der Genderperspektive zu betrachten: Schon an den antikolonialen Bewegungen hatten sich Frauen beteiligt. Sie haben immer gesagt: ‚Wir sprechen nicht jetzt über unsere Anliegen als Frauen, jetzt ist die Zeit der antikolonialen Bewegung, erst danach reden wir über die Interessen der Frauen.› Aber leider gab es nie ein ‚danach›. Darauf machen heute viele Frauen aufmerksam und sagen: «Wenn wir nicht jetzt über Frauenrechte sprechen, ist es dafür nachher zu spät!»
Es wurde bereits gemutmasst, dass Frauen die Verliererinnen der Revolution in Ägypten seien.
Sobald klar wurde, dass in Ägypten gemäss Verfassungsänderung der Präsident keine Ausländerin heiraten dürfe, protestierten die Frauenaktivistinnen und Frauenorganisationen sehr schnell und sagten: «Das geht so nicht!» Die Zivilgesellschaft ist sehr wach, aber es ist ein sehr schwieriges Umfeld, in dem sie agiert. Das hat der 8. März gezeigt, als Ägypterinnen auf die Strasse gingen, um zu zeigen, «Die Revolution ist auch für uns!» Sie wurden von salafitischen Gruppierungen attackiert. Es gibt verschiedene Kräfte, die versuchen, die derzeitigen Entwicklungen nach ihren Interessen zu gestalten.
Die Frauen scheinen sehr stark und gut vernetzt zu sein.
Gut vernetzt und laut. Die Frauen haben gelernt, dass untereinander vernetzt und laut zu sein sowie mit den Medien zu arbeiten, sehr wirksam ist. Das erzeugt Druck und Dynamik. Der Präsident von Jemen hat beispielsweise am 15. April eine Rede gehalten, in der er den Frauen vorwarf, Seite an Seite mit Männern zu demonstrieren, was gegen den Islam sei. Die Reaktion der Frauen war enorm. Tausende gingen auf die Strasse und ihre Empörung war echt: «Du hast uns und unsere Ehre beleidigt.» Der Präsident wurde unsicher, hat eine Sitzung mit Frauen abgehalten und öffentlich gesagt, er wollte niemanden beleidigen, so habe er das nicht gemeint, selbstverständlich sei es ihrer aller Ehre. Es ist schön zu sehen, wie stark und geschickt die Frauen auch in diesem schwierigen Umfeld sind.
Wie haben die Proteste für die Frauen angefangen?
Ende Februar war ich im Jemen inmitten einer Demonstration und einige Frauen haben mir berichtet. «Eigentlich waren wir nicht mehr als drei oder vier Frauen am Anfang, die gewagt haben, mit den Männern auf die Strasse zu gehen. Und dann wurden wir mehr und mehr.» Tatsächlich waren es am Anfang nur einzelne Aktivistinnen, heute sind es Tausende Frauen. Es gibt auch die Geschichten von jungen Frauen, die ihre Verlobung gelöst haben, weil ihr Verlobter ihnen verbieten wollte, auf die Strasse zu gehen. Die Frauen finden also im Jemen eine neue Rolle. Tunesien und Ägypten haben eine andere Frauenbewegungs- und Frauenrechtsgeschichte.
Was sind die Frauenanliegen im islamistischen Kontext?
Selbstverständlich kann man nicht von einer islamistischen Bewegung sprechen. Aber dessen ungeachtet, teilen alle islamisch-fundamentalistischen Kräfte ein sehr konservatives Bild bezüglich der Rolle der Frau in der Gesellschaft. Aber was die Frauenanliegen im arabischen Kontext im Allgemeinen betrifft, so sind die Familiengesetze das Wichtigste. Sie basieren auf religiösen Texten und deshalb betrachten sie nicht nur Islamisten als untastbar und unveränderbar. Die Familiengesetze diskriminieren die Frauen jedoch deutlich. Die Beziehung zwischen Mann und Frau ist durch die Familiengesetze hierarchisch geordnet: der Mann ist das Oberhaupt der Familie und die Frau muss dem Mann gehorchen. Im jemenitischen Kontext ist eine Heirat ein Eigentumskontrakt, die Frau muss die sexuellen Bedürfnisse des Mannes erfüllen – nicht umgekehrt. Sie darf ohne seine Erlaubnis nicht ausser Haus gehen und muss die Hausarbeit erledigen. Andere Familiengesetze sind nicht so extrem wie im Jemen. Es gibt eine Faustregel: je weiter weg von der arabischen Halbinsel, umso progressiver werden die Familiengesetze. In Tunesien wurde das Familiengesetz 1956 reformiert und quasi zum Modell für die Frauen im arabischen Raum, denn auch in Tunesien wurde im islamischen Diskurs argumentiert.
Ist Tunesien auch jetzt noch eine Referenz für Frauen?
Ich glaube, Tunesien hat die Zutaten für echte Reformen: Es ist ein relativ kleines Land mit einer breiten, ausgebildeten Mittelschicht, einer starken Frauenbewegung und im familiären Umfeld hat das Familiengesetz die Strukturen beeinflusst, wenngleich die Situation im ländlichen Raum noch eine andere ist. So hat die tunesische Kommission, welche die Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung vorbereitet, beschlossen, dass auf den Wahllisten gleich viele Frauen wie Männer verzeichnet sein müssen. In Tunesien kann es wirklich eine positive Veränderung geben, es ist gut möglich, dass dort Menschen- und Frauenrechte sowie die Demokratie in der Verfassung verankert werden.
Dann war es auch kein Zufall, dass es in Tunesien zum Auslöser der Proteste kam?
Nein, das war kein Zufall. Tunesien ist ein Modell. Das tunesische Ausbildungssystem hat arabische und französische Elemente, d.h. die Menschen sind auch aufgefordert, zu denken. Ausserdem hatte Habib Bourguiba 1956 eine klare Vision: Um eine moderne Gesellschaft durchzusetzen, müssen sich die familiären Strukturen verändern. Wie macht man das? Mit einem Familiengesetz. Aber trotzdem bin ich der Meinung, dass es entscheidend ist, was jetzt in Ägypten passiert, weil Ägypten immer das Herz der Region war. Wenn es dort richtig läuft, wird das auch woanders zu einer Inspiration. Für den Jemen oder Libyen hingegen bin ich skeptisch, denn dort sind die Strukturen stammesgeprägt und es kann zum Bürgerkrieg und zu Abspaltungen kommen. Umso wichtiger ist es, dass wir den Kontakt mit den Aktivistinnen pflegen und sie nach Kräften unterstützen. Denn wenn wir jetzt nicht über Frauenanliegen sprechen, kommt das Nachher nicht!


Elham Manea wurde in Ägypten geboren und wuchs in verschiedenen arabischen und westlichen Ländern auf. Sie ist Privatdozentin am Institut für Politikwissenschaft der Uni Zürich, Fachgebiet arabische Halbinsel sowie die Stellung der Frau in der arabischen Welt, und Autorin des Buchs «Ich will nicht mehr schweigen». Sie ist Mitglied des Forums für einen fortschrittlichen Islam. Ihre Habilitation «The Arab State and Women’s Rights: The Trap of Authoritarian Governance» wird in Kürze veröffentlicht.


Frauen in Marokko
In Marokko und Algerien, wo der cfd Parterorganisationen unterstützt, bemühen sich verschiedene Frauenorganisationen im Rahmen der kleineren Proteste, den Frauenanliegen Gehör zu verschaffen.
Unter der Leitung der vom cfd unterstützten Ligue Démocratique pour les Droits de la Femme LDDF haben verschiedene Frauenorganisationen ein Memorandum aufgesetzt, in dem sie ihre Forderungen für die geplante marokkanische Verfassungsreform aufführen. Kernanliegen ist die verfassungsmässig verankerte Gleichberechtigung der Geschlechter in Familie, Bildung und Sozialem, Wirtschaft und Politik, Schutz vor Gewalt sowie die vorbehaltlose Umsetzung internationaler Menschenrechts- und  Frauenrechtskonventionen.


Dieser Beitrag erschien in der cfd-Zeitung 3/2011 vom 18.06.2011. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung. Weitere Beiträge finden Sie auf www.cfd-ch.org; dort kann die cfd-Zeitung kostenlos abonniert werden.