
Freie Niederlassung für alle: Willkommen in einer solidarischen Gesellschaft!
An der Tagung vom 23. Januar in Bern, die UnterzeichnerInnen und SympathisantIinnen der Migrationscharta zusammenbrachte und mit der Tour de Lorraine* verknüpft ist – wurde auch über das Thema Kirchenasyl diskutiert. Ist die Zeit gekommen, Frauen, Männer, Kinder, die aufgrund des bankrotten Dublin-Regimes in andere Länder zurückgeschafft werden sollen und deren Leben und Würde mit Füssen getreten wird, in Kirchenräumen zu beherbergen? Auch zur Sprache kamen Formen einer engeren Vernetzung der schweizerischen Basisbewegungen in- und ausserhalb der Kirchen, wie sie etwa im Ostschweizer oder Zürcher Solidaritätsnetz eingespielt sind.
Raum für diese Debatten schafft die Migrationscharta. Das Positionspapier des unabhängigen Netzes KircheNordSüdUntenLinks kam zur rechten Zeit. Es wurde im August 2015 unter dem Titel "Freie Niederlassung für alle: Willkommen in einer solidarischen Gesellschaft!" veröffentlicht. Die Charta ist unabhängig von der Institution Kirche, auch wenn viele VerfasserInnen beruflich in Strukturen der katholischen oder der reformierten Kirche in der Deutschschweiz arbeiten. Sie wollen die Kirchen auf ihren eigenen Grundlagen herausfordern: Die Kirchen sollten, so die Charta, "ihre Kräfte bündeln und sich mit geeinter Stimme unmissverständlich zur Migrationspolitik äussern." Sie seien "zu schärfstem Protest und zum Vorlegen eigener Vorschläge gedrängt." Kirchen bräuchten mehr politische Klarheit und mehr Mut zum Handeln. Kirchen müssten sich öffnen für Bündnisse; Veränderungen in der schweizerischen Migrationspolitik bedingen kluge, solidarische Kooperationen.
Gleichheit – simpel und radikal
Der Kompass der Migrationscharta sind die biblischen Traditionen. Sie ermutigen zu Radikalität, sie dienen den AutorInnen "nach wie vor als Grunderzählung und Grundlage zur Verwandlung der Verhältnisse". In der Charta werden drei Grundsätze für eine neue Migrationspolitik aufgestellt. Sie scheinen simpel, sind aber in ihren Konsequenzen radikal:
1. Gleichheit: "Wenn es um Migration geht", so heisst es in der Charta, "spielen Kategorisierungen eine entscheidende Rolle. Wirtschaftliche Nützlichkeit, ‹kulturelle Nähe›, Herkunft, Klasse, Geschlecht, Religion oder schlicht Rassismus entscheiden über Einschluss und Ausschluss." Aber: "Aus biblisch-theologischer Sicht können diese Einteilungen nicht übernommen werden." Die Gleichheit aller Menschen hat für die AutorInnen auch Wurzeln in der herrschaftskritischen Grundstruktur der Bibel und in der jedem Menschen zugesprochenen Würde.
2. Gerechtigkeit: "Migration wird nicht zuletzt durch eine kapitalistische Wirtschafts- und Handelspolitik, durch Waffenexporte und durch einen nicht nachhaltigen Lebensstil verursacht, wodurch Lebensgrundlagen zerstört statt erhalten werden." Die neoliberale These, "wonach es so etwas wie Gerechtigkeit nicht gebe", müsse verworfen werden. Auch hier der Rückbezug auf die eigene Tradition: In der biblischen Überlieferung ist Gerechtigkeit der rote Faden.
3. Solidarität: "Solidarisches Recht schützt die Kleinen und bändigt die Grossen. Das geltende Recht hat die umgekehrte Tendenz, die Habenden vor den Habenichtsen zu schützen. Es garantiert eher das Eigentum als das Leben." Eine kritische Re-Lektüre der eigenen religiösen Quellen bereitet den Boden: "Solidarität ist die Übersetzung des biblischen Wortes Liebe und meint die Verantwortung für das Gemeinwesen, das Einstehen für die Rechte und Interessen der anderen, insbesondere der Schwächeren."
Die AutorInnen der Charta verstecken ihr Credo nicht. Sie wollen jene auf klare Positionen verpflichten, die in dieser Sprache und in den Kirchen zuhause sind. Sie sind aber weit davon entfernt, religiöse Verankerungen politischer Haltungen als alleinseligmachend darzustellen. Die Charta zieht nicht in einem fundamentalistischen und instrumentellen Verfahren Bibelstellen zur Legitimierung eigenen Handelns bei. Sie will Positionen in der gegenwärtigen Migrationsdebatte an theologischen Befunden und Erwägungen schärfen. Sie möchte radikal andere Denkrichtungen aufzeigen als die Unvernunft der herrschenden Migrationspolitik, welche auch den Wahnsinn des Sterbens im Mittelmeer verantwortet. Innenpolitisch will sie die nationalistisch und rassistisch angehauchte Monopolisierung des Feldes durch die SVP unterwandern. Das ist nötig, denn auch die Kirchen sind in der lauten Migrationsdiskussion im Schweizer Wahljahr 2015 erschreckend still geblieben.
Maria, Josef & Co.
Von null beginnen muss man in den Kirchen nicht. Zum Beispiel Bern: Im internationalen Weihnachtsgottesdienst 2015 der Offenen Kirche in der Heiliggeistkirche bestreiten Sans-Papiers und abgewiesene AsylbewerberInnen das Krippenspiel, zusammen mit Menschen, die vor kurzem noch in einem Schweizer Gefängnis waren, und mit Menschen, denen ein Abtauchen bevorsteht. Sie spielen sich selber. Maria, Josef und das Jesuskind, die an den nationalen Grenzen in Ungarn scheitern. Nur Schlepper, in diesem Fall Engel, vermögen sie in die Schweiz zu bringen. Der Pfarrer der ägyptischen Gemeinde in Bern betet für Frieden und Gerechtigkeit für die Menschen in Syrien, in Jemen, im Sudan. Und er bittet um offene Grenzen. Die Kollekte des Gottesdienstes geht an ein Kollektiv von ehrenamtlich engagierten älteren Frauen; seit Jahren organisieren sie einen kirchlichen Mittagstisch für Flüchtlinge, die einen Nichteintretensentscheid erhalten haben und sich mit Nothilfe durchschlagen müssen.
Konkrete Projekte mit Flüchtlingen wie diese sind Alltag in lokalen Kirchgemeinden und Pfarreien. Es kommt, wie sonst in kaum einer Organisation der Zivilgesellschaft, zu tausend Begegnungen mit Zugewanderten – oft auf Augenhöhe, wenn auch leider manchmal mit einem Schuss karitativem Paternalismus zu viel. Die Kantonalkirchen spielen eine zentrale Rolle in wichtigen Projekten – auch finanziell. In Bern zum Beispiel finanzieren die Kirchen die Rechtsberatungsstelle für Asylsuchende, die Beratungsstelle für Sans-Papiers oder die Kirchliche Anlaufstelle Zwangsmassnahmen, die etwa mit einem Besuchsdienst für Frauen in Ausschaffungshaft einsteht. Die Kirchen – nicht immer ohne interne Auseinandersetzungen – bieten Raum für tamilische Sprachkurse oder eritreische Kirchgemeinden, und sie sind involviert in das Berner Haus der Religionen. So ist die Migrationscharta im Leben verankert. Sie schlägt den Aktiven an der Basis Handlungsperspektiven vor und sie will die oft konservativen und mutlosen Kirchenleitungen zu eindeutigeren Positionen bewegen. Der reformierte Berner Synodalrat setzt sich nun mit der Migrationscharta auseinander.
Menschenrechte für alle
Noch etwas zeichnet die Migrationscharta aus – ihr konsequenter Bezug auf die Grundrechte, die Menschenrechte: "Die Grundsätze der Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität prägen die Menschenrechte. Die UNO-Menschenrechtskonventionen, eingebettet in das gesamte Völkerrecht (zu dem sich die Schweiz im Art. 5 ihrer Verfassung verpflichtet), dienen dem Schutz grundlegender Aspekte der menschlichen Person und ihrer Würde und gelten für alle Menschen. Sie schützen jeden Menschen insbesondere vor der Willkür des Staates. Die Europäische Menschenrechtskonvention EMRK und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte EGMR stellen eine kaum zu überschätzende rechtliche und zivilisatorische Errungenschaft dar."
Hier kann die Charta einen kritischen Beitrag zur Debatte in der Linken leisten. Zu oft werden die Menschenrechte, die nun von rechts systematisch angegriffen werden, auch von links nur instrumentell verwendet und nicht als Referenzrahmen einer umfassenden fortschrittlichen Politik. Mit ihren politischen Vorschlägen zur Stärkung der Grundrechte sucht die Charta, aus einer radikal linken Position heraus, Bündnismöglichkeiten mit den TrägerInnen der liberalen Tradition in der Schweiz. Der Schweizer Strafrechtler Martino Mona plädiert seit längerem für das Recht auf Immigration im liberalen Staat: "Man definiert sich selber als liberalen Staat – und in der Migrationspolitik macht man das Gegenteil. Man lässt willkürlich bestimmte Einzelinteressen überwiegen und schützt zufällige Privilegien und Reichtümer. Das passt nicht zusammen."
Die elementaren Grundrechte werden in der Charta aber nicht isoliert betrachtet. Das Recht auf Arbeit, das Recht auf Gesundheitsversorgung und Sozialleistungen, das Recht auf angemessene Unterkunft oder das Recht auf Schutz vor Diskriminierung bieten zusätzlichen Schutz. Und: Sie schützen auch jene, die bereits in der Schweiz wohnen. Darüber hinaus gilt der ungeteilte Kampf für Menschenrechte insbesondere auch jenen, die im Globalen Süden zuhause sind und nicht migrieren müssen sollen.
Die Ausrichtung der migrationspolitischen Debatte an den Grundrechten hat weitläufige Konsequenzen. Im besten Fall trägt die Debatte zu einer gesellschaftspolitisch umfassenden, die Verhältnisse radikal verändernden Dynamik bei. Es geht nicht nur um EritreerInnen oder um SyrerInnen. Gemeint sind globale Gerechtigkeit und Sicherung der Existenz für alle. Wenn – zum Beispiel in der Schweiz – die Menschenrechte gestärkt werden, werden mit den MigrantInnen im gleichen Zug auch andere verwundbare Gruppen besser vor Diskriminierungen geschützt. Wenn Partizipation und Selbstbestimmung eingefordert werden, erweitern sich demokratische Spielräume für alle.
Am 23. Februar beschäftigt sich das Forum für Zeitfragen in Basel mit der Frage, wie eine solidarische Gesellschaft aussehen könnte. zum Veranstaltungshinweis
Matthias Hui ist Redaktor der Zeitschrift "Neue Wege – Beiträge zu Religion und Sozialismus" und Mitautor der Migrationscharta.