Freiwillige vor!
Weil Menschen helfen wollen, boomt eine neue Form des sanften Tourismus: der Freiwilligendienst. Der finnische Wirtschaftssoziologe Pekka Mustonen* nimmt den Boom der neuen „alternativen“ Reiseformen kritisch unter die Lupe.
Im Januar 2007 kürte ein Wettbewerb in Finnland den „Reisenden des Jahres“: einen Menschen, der zu möglichst exotischen Zielen aufgebrochen und „das wahre Leben“ ausserhalb touristischer Hochburgen gesucht haben sollte. Zwei der Kandidaten, „echte, wahrhafte Traveller“, wurden im Frühstücksfernsehen interviewt. Nach den Vorzügen ihres Daseins befragt, antwortete die spätere Gewinnerin: „Es ist nett, wenn man manchmal von Einheimischen zum Essen eingeladen wird.“
Rucksackreisende repräsentieren längst die neuen Massen
Ökologisch betrachtet, ist Tourismus ein fragwürdiges Phänomen. Menschen verbringen viel Zeit damit, an Orte zu reisen, an denen sie nie zuvor gewesen sind. Sie möchten etwas erleben, was sie noch nie zuvor erlebt haben. Und was ist das Ergebnis? Erinnerungen, eine Sammlung von Fotos und vielleicht noch eine Flasche Wein? Die Auswirkungen des Tourismus sind massiv. Sie betreffen die ökologische, soziokulturelle und wirtschaftliche Umwelt des Zielgebietes. Am schwerwiegendsten sind Umweltverschmutzung, Umweltzerstörung, die Verschwendung von Ressourcen (zum Beispiel Wasser für Golfplätze und Swimmingpools), eine fehlende Recycling-Infrastruktur, die entstehenden Abhängigkeiten der Einheimischen vom Tourismus, Korruption, Prostitution, Kinderarbeit … die Liste ist endlos. Wenn weder Touristenströme begrenzt noch die Folgen des Tourismus überwacht werden, kann der Tourismus seine eigene Grundlage zerstören. Tourismusforscher stimmen mehr oder weniger darüber überein, dass der Individual- oder Alternativtourismus nicht existiert. Alternativ bedeutet alternativ zu irgendetwas. Aber zu was? Zum Massentourismus? Rucksackreisende repräsentieren längst die neuen Massen. So gesehen, ist die Kritik am konventionellen Tourismus durch nichts und niemanden zu rechtfertigen.Nach Alternativen zu suchen ist ein Privileg der Angehörigen von Konsumgesellschaften. Eine Woche Pauschalurlaub auf Ibiza oder zwei Monate Trekking in Tibet folgt letztlich der gleichen Logik: Menschen suchen nach etwas, das sie zu Hause nicht haben, und sie glauben, sie können es irgendwo anders finden. Jene, die sich selbst „Traveller“, „Abenteurer“ oder „Entdecker“ nennen, sind in gleichem Masse Touristen wie jene, die Jahr für Jahr nach Playa del Inglés auf Gran Canaria fahren. Das Einzige, das wir heutzutage als „individual“ betrachten können, ist überhaupt nicht zu reisen. Doch es gibt auch die positiven Beispiele, in denen sich Tourismus lokal nachhaltig auswirkt, ökonomisch, ökologisch und soziokulturell. Aristoteles hat gesagt, die fundamentale Grundlage menschlichen Verhaltens sei das Streben nach Glück. Und Durkheim hat ausgeführt, dass die Basis dafür im Altruismus liege. Wenn man wirklich helfen kann, entsteht Solidarität und ein Glücksgefühl breitet sich aus. Das ist der Motor jeder Entwicklungszusammenarbeit. Eskapismus wird als das wichtigste Motiv für die Nachfrage nach Tourismus angesehen. Menschen wollen ihrem Alltagsleben entfliehen und irgendwo hinreisen, wo die Gesetzmässigkeiten und Verantwortlichkeiten des Alltags abwesend sind. Die Motivation für die neuen Formen des nachhaltigen Tourismus entsteht aus dem Drang nach einem guten Gewissen. Konsumenten sind sich bewusst, dass sie aus Eigennutz und Eitelkeit zu viel konsumieren. Das haben längst auch die Reiseanbieter bemerkt. Inzwischen gibt es hunderte, wenn nicht tausende als „ökologisch“ etikettierte Angebote im Tourismus. In Zeiten, wo wir nicht einmal mehr wissen, was wir von Biodiesel halten sollen, hängt der Erfolg von ökologischen Tourismusprodukten vor allem von deren Glaubwürdigkeit ab, und damit vom Marketing. Letztendlich ist alles eine Frage des Vertrauens.
Keine falschen Hoffnungen wecken
Freiwilligendienste sind eine der zahlreichen neuen Formen des sanften Tourismus. Wenn man sie jedoch mit anderen Angeboten vergleicht, die mit einer Öko-Vorsilbe etikettiert sind, lassen sich viele Unterschiede feststellen. Die Idee hinter Freiwilligendiensten ist, feste und andauernde Beziehungen und Vertrauen zwischen Gastgebern und Gästen entstehen zu lassen. Idealerweise gewinnen beide Seiten durch den Freiwilligendienst: die Touristen durch die direkte Interaktion mit den Gastgebern, die es ihnen ermöglicht, tief in die andere Kultur einzutauchen und sie in ihrer authentischen Form zu erleben; die Gastgeber durch die konkrete Hilfe, die geleistet wird, und die Solidarität, die sie erfahren. Im Gegensatz zu vielen anderen sogenannten Ökotourismusprojekten kommen Freiwilligendienste der Destination direkt zugute, ohne zusätzliche Zwischenhändler. Freiwilligendienste sind eine der nobelsten Arten zu reisen, weil sie alle Dimensionen dauerhafter Entwicklung berücksichtigen. Man kann Freiwilligendienste sogar als friedensstiftend betrachten.
Obwohl Freiwilligendienst eigentlich ein relativ altes Phänomen ist – man denke nur an die vielen jungen Leute, die in israelischen Kibbuzim Orangen gepflückt haben – hat sich die akademische Welt erst in jüngerer Zeit dem Thema angenommen. Grund ist der starke Anstieg an Freiwilligenprojekten in den vergangenen Jahren. Das starke Wachstum dieses touristischen Sektors lässt sich leicht beobachten, auch wenn genaue Zahlen fehlen. Es gibt noch immer keine Statistiken, auch weil es unmöglich erscheint, eine Statistik über einen Reiseart zu führen, die von derart fragmentarischer Natur ist.
Freiwilligendienste sind heute eine Ausprägung von Tourismus mit eigener klaren Charakteristik. Die Zunahme von Freiwilligendiensten führt jedoch zu den gleichen Problemen wie bei ökotouristischen Produkten. Der Begriff „Freiwilliger“ kann in verschiedenen Fällen völlig unterschiedlich gebraucht werden. Vermutlich gibt es auch Projekte, die den Wunsch von Touristen, helfen zu wollen, ausnutzen. In diesen Fällen wird der Gewinn für beide Parteien langfristig minimal sein.
Ein anderes Problem der Freiwilligendienste ist, dass die Menschen der gastgebenden Gemeinschaft meist nicht einschätzen können, wer ihnen zu Hilfe eilt. So kommt es immer wieder vor, dass Touristen sehr rasch von ihren edlen Motiven abkommen und sich dann doch intensiv der Entspannung zuwenden. Die meisten freiwilligen Helfer in Indien gleichen gewöhnlichen Rucksacktouristen. Oftmals sind sie auch welche. Sie fügen lediglich ein paar helfende Elemente in ihren Urlaub ein. Ihr Sinn ist stärker auf Urlaub gerichtet als auf die ehrenamtliche Arbeit als Helfer. Daran ist nichts verkehrt, solange die Signale, die sie aussenden, keine falschen Hoffnungen wecken. Die Gastgeber könnten lange auf die angekündigte Hilfe gewartet haben, und wenn sie endlich kommt, zeigt sich ihr wahres Gesicht. Die Folgen sind absehbar. Wieder einmal geht es um Vertrauen und Respekt.
Jede Form des Tourismus enthält negative Aspekte. Und dennoch kann Tourismus, der sich auf echte altruistische und prosoziale Haltungen gründet, dazu beitragen, lokal tragfähige touristische Produkte zu entwickeln. Echte Freiwillige reisen zu ihren Zielen, weil sie wahrhaft helfen wollen. Es gibt viele Wege und Möglichkeiten dazu. Manche Freiwillige arbeiten auf den Feldern mit, andere bauen Häuser oder Strassen. Manche unterrichten die Kinder armer Familien, andere forschen oder sammeln und verbreiten Informationen. Manche verbringen an ihrem Bestimmungsort eine Woche, andere bleiben monatelang.
Freiwilligendienste auf der Basis des gegenseitigen Nutzens
Es gibt Freiwilligenprojekte, die schon seit vielen Jahren, sogar Dekaden existieren. Das bedeutet nicht notwendigerweise, dass die gastgebende Gemeinschaft vom Tourismus abhängig geworden ist. Wenn jedoch der Anreiz durch den Tourismus und die daraus entstehenden Einnahmen für eine Region, das gilt besonders für entlegene Gebiete, zu groß wird, ist die fundamentale Grundlage in Gefahr.
Diese Basis der Freiwilligendienste besteht im gegenseitigen Nutzen. Das Hauptziel eines Freiwilligendienstes sollte sein, die Gastgeber zu unterstützen, sich selbst zu helfen. Hausarbeit im Auftrag von einem Gastgeber zu verrichten, hat für den Gastgeber keinen langfristigen Nutzen. Ist der Gast abgereist, ist der Gastgeber wieder auf sich gestellt. Verschiebt sich auf der anderen Seite das freiwillige Helfen gespickt mit touristischen Erlebnissen zum bloßen Tourismus, können anhaltende Veränderungen entstehen. Mitglieder der gastgebenden Gesellschaft verlieren dann möglicherweise ihr Interesse an traditionellen Tätigkeiten. Das ist zum Beispiel an vielen Orten rund um das Mittelmeer passiert. Aber was geschieht, wenn die Touristenströme nachlassen?
Der Erfolg von Freiwilligenprojekten ist von vielen Dingen abhängig. Eigenheiten der Zielregionen spielen eine nicht unwichtige Rolle dabei. Deshalb machen allgemein anwendbare Regeln für Freiwilligendienste keinen Sinn. Folglich werden wir auch in der Zukunft den Missbrauch von Öko-Vorsilben beobachten können. Es ist traurig, aber wahr: Die Evaluierung muss von jedem Teilnehmer und jedem Gastgeber für jeden einzelnen Arbeitseinsatz individuell geleistet werden. Wenn Gast und Gastgeber in dessen Haus zusammenkommen, helfen Normen wenig. Ob ein einzelner Reisender sich „Tourist“, „Traveller“, „Abenteuerer“, „Entdecker“ oder „Freiwilliger“ nennt, das Wichtigste sind ein gesunder Menschenverstand und die Begegnung auf gleicher Augenhöhe.
Und was wurde aus der „Reisenden des Jahres“ in Finnland? Ihr Hauptpreis war eine „abenteuerliche Reise“ zu den Galapagosinseln, auf denen Tiere und Pflanzen über Tausende von Jahren in friedlicher Isolation leben.
Wir können nur hoffen, dass die Firmen, die diese Reisen verkaufen, und die Touristen, die tatsächlich dort hinreisen, wissen, was sie tun oder besser noch: warum. Wie Touristen ihre Ziele auswählen, ist eine Frage, auf die es viele Antworten gibt. Egoismus sollte keine davon sein.
Aus dem Englischen von Karola Klatt
*Dr. Pekka Mustonen, 1975 in Joensuu, Finnland geboren, ist Wirtschaftssoziologe der Turku School of Economics und forscht zu Sanftem Tourismus, Ethik und Konsumentenverhalten im Tourismus. Der Beitrag erschien in „Kulturaustausch – Zeitschrift für internationale Perspektiven“ II/2007, übernommen mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion. (mehr über die Zeitschrift „Kulturaustausch“: siehe Rubrik Bücher in diesem Newsletter)