Freiwilligentourismus in Waisenhäusern – zum Schaden der Kinder
Basel, 22.04.2011, akte/ Freiwilligentourismus, auch Voluntourismus genannt, ist ein boomender Zweig der boomenden Tourismusbranche. Gemäss Fachleuten gehören Voluntourismus-Angebote, welche mit Arbeit in Waisenhäusern verbunden sind, zu den am besten verkauften, sowohl bei jungen Erwachsenen im Zwischenjahr als auch bei Berufsleuten im besten Alter mit dem Wunsch, in ihren Ferien Gutes zu tun.
Eine Nachfrage mit üblen Folgen. Statt die Situation der Kinder zu lindern, kaufen findige Geschäftsleute Kinder verarmter Bauernfamilien, leihen sie von den Eltern aus oder rauben sie, um Waisenhäuser zu eröffnen. "Die Anzahl der Waisenhäuser steigt parallel mit der zunehmenden Anzahl Touristen", warnte kürzlich Ian Birrel in einem Beitrag in der englischen "Daily Mail". In den beliebtesten Touristendestinationen schiessen sie wie Pilze aus dem Boden, die Feriengäste werden mit Angeboten von Besichtigungsausflügen zu den privaten Waisenhäusern überhäuft und motiviert, für diese Zeit und Geld zu spenden.
Siem Reap: Ein Waisenhaus auf weniger als 3000 Einwohner
In der kambodschanischen Stadt Siem Reap am Eingang zu den weltberühmten Ruinen von Angkor Wat, gibt es auf eine Bevölkerung von 100’000 Personen 35 Waisenhäuser. Eines lässt die Kinder spätnachts vor essenden und trinkenden Besuchern aufmarschieren und sich vor Schilder mit der Aufschrift "Unterstützt unsere Waisen!" stellen. Auf den Websiten der Waisenhäuser werden glückstrahlende Kinder gezeigt. Im Waisenhaus selbst hören die BesucherInnen Geschichten des Verlassenwerdens.
Alles Lüge, meint Birrel: Einige der Waisenhäuser sind nur Fassade für Kinderarbeit und sexuelle Ausbeutung. So wurde Anfang Jahr der britische Eigentümer eines Waisenhauses in Siem Reap wegen Übergriffen auf mehrere unter seinem Schutz stehende Kinder zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. In anderen werden Kinder absichtlich schmutzig gehalten, oder man lässt sie hungern, damit sie bedürftiger aussehen. Das UNO-Kinderhilfswerk UNICEF verlangt die Schliessung der meisten der Waisenhäuser in Siem Reap.
Bali: Zwei Drittel der sogenannten Waisen hätte Eltern
In Bali hat sich innert weniger als zehn Jahren die Anzahl der Waisenhäuser verdoppelt – obwohl zwei Drittel der Kinder immer noch Vater und/oder Mutter haben. Kinderjäger locken niedliche Kinder mit dem Versprechen von Geld und Schulbildung von ihren Eltern weg. Einmal im Waisenhaus, müssen sie von frühmorgens bis spätabens als Bauarbeiter, Schmuckhersteller oder Strassenverkäuferinnen schuften. Mangelernährung ist üblich.
"Die übelsten Direktoren von Waisenhäusern verkaufen alle erhaltenen Gaben, sogar die Medikamente, und lassen die ihnen anvertrauten Kinder in schockierendsten Verhältnissen vegetieren, während sie selbst in geräumigen Villen leben und ihre eigenen Kinder im Ausland ausbilden lassen", sagt Brenton Whittaker, Gründer der Kinderrechtsorganisation Bali Kids. "Sie führen diese Waisenhäuser als Business, geben so wenig als möglich für Essen, Gesundheit und Bildung für die Kinder aus, um möglichst hohe Profite zu machen."
Waisenhäuser als Katastrophengeschäft: zum Beispiel in Haiti
Nach Katastrophen schnellt die Anzahl Gründungen von Waisenhäusern regelmässig in die Höhe – obwohl, wie die Englische Kinderhilfsorganisation Safe the Children festgestellt hat, die Zahl der verlassenen Kinder viel tiefer liegt als allgemein angenommen. Einige unechte Waisen werden sogar als Adoptivkinder zum Kauf geboten, nachdem sie ihren Familien entrissen wurden. In Haiti, wo die gesetzlichen Grundlagen gegen Sklaverei und Menschenhandel besonders schwach sind, gab es schon vor dem Erdbeben letztes Jahr 600 Waisenhäuser, also rund eines pro 16’600 Einwohner, und laufend werden neue eröffnet. Zum Vergleich: In der Schweiz kommen auf 7 Millionen Einwohner rund 130 Kinderheime und Waisenhäuser, also rund eines pro 54’000 Einwohner.
Gemäss dem Obersten Polizeichef Haitis sind viele der Waisenhäuser Fassaden für kriminelle Banden, die mit Obdachlosen und Hungrigen Profite machen. Eine Hilfswerkmitarbeiterin erzählte Birrel von Babies, die unbeaufsichtigt auf Stühlen sässen und jederzeit zu Boden rollen könnten. Ein Beamter berichtete, alle Kinder seien unsäglich dünn. Er habe den Direktor des Waisenhauses gefragt, ob er zuwenig Geld für die Ernährung der Kinder habe, der aber habe kühl geantwortet: "Wir haben haufenweise Geld. Doch wir halten die Kinder absichtlich dünn, denn so erhalten wir von den Kirchengruppen, denen wir die Bilder der Kinder schicken, mehr Geld."
Im Februar wurden am Flughafen München ein Deutscher und ein Brasilianer verhaftet: Sie sollen in Haiti ein Waisenhaus als Fassade für pädokriminelle Übergriffe betrieben haben. Bei den Verhafteten wurde kinderpornografisches Material gefunden, das die Übergriffe belegt. Zusammen mit anderen Männern schleusten sie mehrere Opfer vermutlich auch nach Deutschland.
Auch in gut geführten Waisenhäusern ist der Einsatz von Voluntouristen fragwürdig
Nicht alle Waisenhäuser sind Kinder-Ausbeutungsbetriebe. Es gibt ausgezeichnete Zentren mit engagiertem Personal. Aber auch in diesen, belegt Linda Richter, Professorin aus Durban/Südafrika, in einer Ende letzten Jahres veröffentlichten Studie, sind Kurzeinsätze im Rahmen von Voluntourism schädlich und hinterlassen traumatisierte Kinder. Denn sobald die Kinder eine emotionale Verbindung mit dem Besucher oder der Besucherin aufgebaut haben, werden sie auch schon wieder verlassen: "Aufbau und Auflösung von Bindungen mit aufeinanderfolgenden Freiwilligen ist für kleine Kinder besonders schädlich. Mit dem steten Wechsel zwischen Beziehungsaufbau zur Pflegeperson und Verlust derselben werden sie sehr verletzlich. Das Risiko psychosozialer Probleme, die ihnen auf längere Sicht schaden können, steigt erheblich. Immer wieder beobachtete Eigenschaften von Heimkindern sind unterschiedlose Freundlichkeit und ein exzessives Bedürfnis nach Aufmerksamkeit."
Fachleute empfehlen, grundsätzlich alle BesucherInnen von Waisenhäusern gründlich zu überprüfen – wie das im Westen bereits üblich ist. Ausserdem, betonen sie, geht es den Kindern bei ihren Eltern fast immer besser.