Seit 1981 steht die Gleichstellung von Mann und Frau in der Schweizer Verfassung. Wo stehen wir fast 40 Jahre später?

Der Gleichstellungsartikel hat auf Ebene der Gesetzgebung viel verändert. Das neue Ehe- und Scheidungsrecht räumt den Frauen viel mehr Rechte ein und wertet auch ihre Stellung im Haushalt auf. Auch der Zugang von Frauen zu öffentlichen Räumen hat sich verbessert – der Anteil von Frauen in Parlament und Regierungen ist deutlich gestiegen. Verbessert haben sich auch die beruflichen Perspektiven. Und schliesslich gibt es auch in Bezug auf die Gewalt gegen Frauen verschiedene Gesetze, die Frauen besser schützen.

Gibt es auch eine Schattenseite?

Ja – absolut. Die Rahmenbedingungen des Alltags haben sich zu wenig zugunsten der Frauen verändert. Die Schweiz gehört zu den Ländern, in denen die Lohneinkommen zwischen Männern und Frauen am ungleichsten verteilt sind. Das ist nicht nur eine Folge des Lohngefälles, sondern auch der sozialen Arbeitsteilung. In Arbeitsstunden berechnet, arbeiten Frauen und Männer im Erwerbsalter heute gleich lang, doch ein Grossteil der Arbeit, die Frauen leisten – die Betreuung von Kindern, Haushalt, Pflege von Angehörigen usw. – ist unbezahlte Arbeit. Rechnet man diese Faktoren zusammen, ergibt sich für die Frauen eine Einkommenslücke von über 100 Milliarden Franken – das entspricht etwa drei Mal den gesamten öffentlichen Bildungsausgaben der Schweiz.

Wie kommt das?

Im Bereich der Kinderbetreuung und der Langzeitpflege hinkt die Schweiz vielen Ländern barbarisch hinterher. Bei uns bezahlen Haushalte 60 Prozent der Pflegekosten selbst – das ist nicht einmal in den USA so. Und führt aber im Gegenzug dazu, dass vor allem Frauen vieles selbst leisten, oder Billigarbeitskräfte z. B. aus dem Osten dafür angestellt werden. Das Arbeitsvolumen, das Frauen alleine mit informeller Hilfe für Bekannte und Verwandte in anderen Haushalten leisten (Kinderbetreuung, Pflege usw.), ist etwa gleich gross wie das gesamte Arbeitsvolumen in der öffentlichen Verwaltung von Bund, Kantonen und Gemeinden. Hinzu kommt das Lohngefälle zwischen Männern und Frauen, welches pro Stunde durchschnittlich 17 Prozent beträgt. Nehmen wir einmal an, eine Frau arbeitet voll und ihr Mann bleibt zu Hause. Dann müsste sie wöchentlich einen Tag länger arbeiten für das gleiche Einkommen. Gerade wenn man Kinder hat und Zeit und Geld eh schon knapp sind, führt das dazu, dass Frauen aus ökonomischen Gründen mehr unbezahlte und weniger bezahlte Arbeit machen als der Mann.

Was müsste aus Ihrer Sicht getan werden?

In der Schweiz bräuchte es endlich eine anständige Langzeitpflege, anständige Versicherungssysteme und vor allem mehr Kindertagesstätten mit niedrigen Tarifen auch für die Mittelklasse – es gibt nichts anderes. Nur so können Frauen entlastet werden und erhalten die Möglichkeit, erwerbstätig zu sein. Und dann müssen wir uns auch mit der Lohnungleichheit befassen. Wieso verdienen Angestellte in Pflegeheimen oder Kinderkrippen weniger als eine Person am Bankschalter? Warum muss in einem so reichen Land wie der Schweiz so viel Arbeit unentgeltlich und ehrenamtlich geleistet werden bzw. warum wird gerade diese für die Gesellschaft so wichtige Arbeit nicht entlohnt? Das müsste doch diskutiert werden.

Gibt es Länder, die es besser machen?

Die skandinavischen Länder und Frankreich haben eine sehr gute Versorgung mit öffentlich finanzierter Kinderbetreuung und Langzeitpflege. In Dänemark etwa ist der Staat im Fall von Pflegebedürftigen auch für den ganzen "Hoteldienst" – also Einkaufen, Waschen, Kochen, Putzen – verantwortlich. Und er zieht die Familien bei der Suche nach Lösungen mit ein. Wird jemand krank, schaut eine staatliche Stelle, welche Unterstützung die Person braucht, und stellt die Frage, wer es macht. Stellt sich jemand von der Familie zur Verfügung, erhält sie dafür einen Lohnausgleich und es wird klar geregelt, welche Leistungen erwartet werden.

Sehr interessant ist auch ein Modell, das in Argentinien während der grossen Wirtschaftskrise in den 1990er-Jahren angewandt wurde. Millionen von Frauen, die sich organisierten und Gemeinschaftsküchen, Hütedienste usw. aufbauten, wurden vom Staat dafür entlohnt, dass sie kollektiv öffentliche Dienstleistungen übernahmen. Leider wurde dieses Projekt mit dem Wirtschaftsaufschwung wieder gestrichen und die vorher bezahlte Arbeit wurde wieder in unbezahlte verwandelt.

Analog könnte auch in der Schweiz das kollektive Engagement von Frauen z. B. für Spielgruppen, für Mittagstische usw. vom Staat abgegolten werden. Die Finanzierung von kollektiven öffentlichen Leistungen würde nicht nur die Gemeinschaften wieder näher zueinander bringen und die Selbstorganisation stärken, sondern auch die Care-Arbeit stark aufwerten und den Zugang von Frauen zu mehr Einkommen verbessern.

Sie waren eine der ersten Ökonominnen der Schweiz. Hatten Sie Vorbilder, die für Ihren Weg wichtig waren?

Auf persönlicher Ebene sicher meine Mutter. Sie hat mir schon früh Geschichten erzählt über die ungerechte Behandlung von ihr gegenüber ihren Brüdern. Sie hat dies immer in Geld, Freizeit, Bildung und Erbrechten umgemünzt und so habe ich schon früh rechnen gelernt. In beruflicher Hinsicht war meine Forschungszeit in Mosambik enorm wichtig. Meine Forschungsleiterin dort war eine Soziologin und Feministin und ANC-Mitglied – für mich eine sehr inspirierende Wissenschaftlerin. Hier lernte ich in den 1970er Jahren erstmals Fragen und Instrumente kennen, mit denen sich Geschlechterverhältnisse analysieren lassen. Wir befassten uns damals mit Fragen, die in der Schweiz bis heute nicht Standard der Forschung sind.

Mascha Madörin, 1946, Ökonomin, lic.rer.pol. beschäftigt sich seit 25 Jahren mit verschiedenen Aspekten und Ansätzen der feministischen Wirtschaftstheorie und -analyse, insbesondere mit der Sorge- und Versorgungswirtschaft. Nach einem Aufenthalt in Mosambik, wo sie an der Universität forschte und unterrichtete, arbeitete sie zudem für verschiedene Nichtregierungsorganisationen, darunter die "Aktion Südafrika Boykott" und die "Aktion Finanzplatz Schweiz – Dritte Welt".