Mit rund 100 Rezepten ist es ein Kochbuch, gewiss. Aber gleichzeitig ist es ein Reiseführer, eine ethnografische Studie – ohne wissenschaftlichen Anspruch – und ein künstlerisches Werk. Auch wenn es im Untertitel nur heisst: Bilder, Geschichten, Rezepte.

Die Illustratorin und Cartoonistin Gabi Kopp nimmt uns mit auf eine Reise durch Istanbul. Weder die blaue Moschee noch der Topkapi-Palast stehen auf dem Programm, dafür lernen wir unterwegs viele Frauen und einige Männer in einer zwar alltäglichen, aber TouristInnen normalerweise kaum zugänglichen Umgebung kennen. Unvermittelt stehen wir in ihren Küchen, schauen ihnen beim Kochen über die Schulter, während sie von ihrer Herkunft erzählen, von ihren Familien und ihrem Beruf. Meistens erfahren wir auch, wie viel Zeit sie in der Küche verbringen und bei wem sie kochen gelernt haben. Wir erhalten Einblick in ihre intime Welten; dennoch sind unserem Voyeurismus Grenzen gesetzt. Gabi Kopp, selber auch Köchin sowie Mitbegründerin des Genossenschaftsrestaurants Widder in Luzern, hat ihre Auskunftspersonen, die Räume, Speisen und das Geschirr nicht fotografiert, sondern liebevoll beschrieben, gezeichnet und bunt ausgemalt.
Wir lernen den Schmelztiegel Istanbul von seiner kulinarischen Seite kennen und erfahren gleichzeitig einiges über seine BewohnerInnen und ihre Herkunft. Längst sind uns zwar Kebab und Lahmacun auch vom Türken bei uns vertraut, doch der Reichtum der türkischen Küche ist noch zu entdecken. Von wegen türkische Küche: es gibt sie so wenig wie eine chinesische oder selbst schweizerische. In Kopps Sammlung sind kurdische und armenische Rezepte enthalten, sie stammen vom schwarzen Meer oder aus dem Kaukasus, vom Balkan aus Albanien oder Bosnien. Die Volksgruppen leben zum Teil seit Jahrhunderten in der heutigen Türkei, oder kamen erst vor kurzem oder irgend einmal als Flüchtlinge. Plötzlich stösst man beispielsweise auf spanische Albondigas (Fleischbällchen), welche die vor über 500 Jahren aus Spanien vertriebenen Juden mitgebracht haben.
Nebenbei erfahren die Leserinnen und Leser so auch ein wenig Historisches und Politisches, ohne dass dies vertieft würde, was wohl auch zu weit geführt hätte. Doch manchmal wüsste man gerne mehr. Etwa wenn wir lesen, dass Baki Ceylan, der heute als fliegender Händler in Kadiköy Pilav (Reisgericht) verkauft, nach dem Militärputsch von 1980 zwölf Jahre als politischer Gefangener in Haft war. Und wenn es heisst: "Zum Glück dürfen sich die verschiedenen Volksgruppen wieder zu ihren Wurzeln bekennen", mag man sich fragen, ob die Hunderten von KurdInnen, die nach den Wahlen 2009 verhaftet wurden und seit Monaten im Gefängnis sind, dies auch so sehen.
Es bleibt ein anregendes und liebevoll geschriebenes sowie gezeichnetes Buch, in dem man gerne durch die Rezepten stöbert, das eine oder andere ausprobiert, oder sich bloss mit den Gerichten und Namen vertraut macht. Das ausführliche Glossar hilft dabei. Jedenfalls können wir die vielfältigen Speisen Istanbuls vollkommen ökologisch in den eigenen vier Wänden kennen lernen, während uns die KöchInnen ans Herz wachsen. Sollte es uns doch einmal nach Istanbul verschlagen, werden wir die Adressliste der Lokale aus dem Buch gerne mitnehmen. 
Gabi Kopp: Das Istanbul Kochbuch. Verlagshaus Jacoby & Stuart. Berlin 2010. ISBN 978-3-941787-10-0, CHF 33,50