Amneh Mansur leidet an einem Herzfehler. Die 29jährige Mutter von vier Kindern braucht dringend eine Operation, doch die Spitäler im Gazastreifen sind nicht dazu ausgerüstet, den komplizierten Eingriff durchzuführen. Sie beantragte deshalb eine Ausreisebewilligung, um sich in einem Spital in Israel behandeln zu lassen. Doch zwei Wochen später erhält Amneh Mansur einen für sie unerklärlichen negativen Entscheid: Sie darf nicht ausreisen.

Wenn eine Person aus dem Gazastreifen medizinische Behandlung benötigt, die in Gaza nicht erhältlich ist, muss sie eine Ausreisebewilligung aus medizinischen Gründen beantragen und sich in einem Spital in der Westbank oder in Israel behandeln lassen. Die israelische Militärbehörde in Erez ist die einzige Instanz, die über solche Gesuche entscheiden kann. Gegen 40 Prozent der Gesuche werden abgelehnt oder nicht beantwortet, meist ohne dass die Patientin oder der Patient den Grund dafür kennt.

Dann setzen sich normalerweise israelische Menschenrechtsorganisationen wie die Ärzte für Menschenrechte (Physicians for Human Rights Israel: PHR) für die PatientInnen ein, denn palästinensische Bürger dürfen nicht direkt mit der israelischen Behörde in Kontakt treten. Ihr Gesuch wird vom behandelnden Arzt an ein palästinensisches Administrativkommittee weitergeleitet, dessen einzige Macht darin besteht, das Gesuch an die israelische Behörde weiterzugeben. Für die Kranken und ihre Familien ist es deshalb schlicht unmöglich, sich selber über den Stand ihres Gesuches zu erkundigen oder gegen eine Ablehnung Rekurs einzulegen.

Die Ärzte für Menschenrechte erhalten monatlich über 100 Anfragen von PatientInnen aus Gaza, deren Gesuch auf medizinische Behandlung ausserhalb des Gazastreifens von den israelischen Armeebehörden abgelehnt oder nicht beantwortet worden ist. Freiwillige israelische ÄrztInnen sehen sich die medizinischen Dossiers an und verfassen Expertengutachten, welche die medizinische Dringlichkeit einer Behandlung bestätigen. Häufig erreichen so die PatientInnen aus Gaza mit einiger Verzögerung doch noch das Spital ausserhalb des Gazastreifens.

Doch im Herbst 2009 war plötzlich alles anders: Die israelische Militärbehörde teilte den drei israelischen Menschenrechts-Organisationen Ärzte für Menschenrechte, Gisha und HaMoket mit, dass sie auf ihre Gesuche zugunsten von PatientInnen aus Gaza in Zukunft nicht mehr eingehen werde. Damit verloren die betroffenen Menschen ihre einzige Rekursmöglichkeit. Deshalb schlugen die drei Menschenrechtsorganisationen Alarm: Die beiden Schweizer Partnerorganisationen der Ärzte für Menschenrechte, das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen Schweiz (HEKS) und medico international Schweiz, reagierten sofort: Sie schrieben offizielle Briefe an die israelischen Behörden und riefen die Schweizer Vertretung vor Ort dazu auf, sich auf diplomatischem Weg für die Widerrufung der verschärften Regelung einzusetzen.

Nur dank der Intervention verschiedener internationaler Partner war es möglich, diese Bestimmung, zumindest für Kranke in lebensbedrohlichen Situationen, wieder rückgängig zu machen. Nach wie vor macht die vollständige Abriegelung des Gazastreifens aber auch vor Schwerkranken nicht Halt: Sie sind mit riesigen bürokratischen Hürden konfrontiert, um dringend notwendige medizinische Behandlungen zu erhalten. Dabei kommt es immer wieder zu Fällen, wo die Ausreisebewilligung zu spät kommt.

Die Gefahr ist gross, dass die Blockade des Gazastreifens längerfristig noch viel mehr Opfer fordert, wenn die internationale Gemeinschaft nicht reagiert. Wie im Goldstone-Bericht  nachzulesen ist, ist wegen der Zerstörung des Kanalisationssystems während des Krieges ein grosser Teil des Trinkwassers verseucht, und durch die strengen Einfuhrbeschränkungen auf Lebensmitteln leidet ein grosser Teil der Bevölkerung unter Fehlernährung. Die langfristigen gesundheitlichen Folgen davon sind kaum abzusehen.
Zum Goldstone-Bericht
Zum Landesprogramm Palästina/Israel von HEKS
Angela Elmiger ist HEKS-Programmbeauftragte Mittlerer Osten
Bild: Islamicrelief.de/blog; Besuch eines Krankenhauses in Gaza nach einem Angriff der israelischen Luftwaffe; Ärzteblatt, www.aerzteblatt.de ;