Genug genügt. Mit Suffizienz zu einem guten Leben
40 Jahre ist es her, da schrieb der Sozialpsychologe Erich Fromm in seinem populären Werk "Haben oder Sein. Über die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft": "Immer mehr Menschen werden sich der Tatsache bewusst:
- dass Glück und grösstmögliches Vergnügen nicht aus der uneingeschränkten Befriedigung aller Wünsche resultieren und nicht zu Wohlbefinden führen;
- dass der Traum, unabhängige Herren über unser Leben zu sein, mit unserer Erkenntnis endete,
- dass wir alle zu Rädern in der bürokratischen Maschine geworden sind;
- dass unsere Gedanken, Gefühle und Vorlieben durch den Industrie- und Staatsapparat manipuliert werden, der die Massenmedien beherrscht;
- dass der wachsende wirtschaftliche Fortschritt auf die reichen Nationen beschränkt blieb und der Abstand zwischen ihnen und den armen Nationen immer grösser geworden ist;
- dass der technische Fortschritt sowohl ökologische Belastungen als auch die Gefahr eines Atomkrieges mit sich brachte, die jede für sich oder beide zusammen jeglicher Zivilisation und vielleicht sogar jedem Leben ein Ende bereiten können."
Einige Menschen suchen den Ausbruch aus diesem "Räderwerk" von immer mehr. Und einzelnen gelingt es, einen genügsameren Lebensstil zu pflegen und zu geniessen. Diesen Menschen spürten drei Forscherinnen der Uni Bern nach. Sie definierten Mindestkriterien für Werte, Kompetenzen, und konkretem Verhalten, die zu einem suffizienten (genügsamen) Lebensstil gehören, formulierten daraus einen Fragebogen und filterten aus 150 Rücksendungen die 25 Personen heraus, welche diese Mindestkriterien erfüllen. Mit diesen führten sie Leitfadeninterviews und identifizierten so die 16 Frauen und Männer, welche den Anforderungen eines suffizienten Lebensstil wirklich entsprachen.
Fünf von ihnen, die einen besonderen Bereich eines suffizienten Lebensstils repräsentieren, werden porträtiert – etwa Rahel, die Zufussgehen und Velofahren allen schnelleren Fortbewegungsmitteln vorzieht, weil sie es für gesünder hält und sich dadurch anders eingebunden fühlt in die Stadt; Maria, die mit wenigen Dingen aus zweiter Hand lebt und so wenig wie möglich konsumiert; Florian, der sich um der Gerechtigkeit willen selbst einschränkt und in der materiellen Bescheidenheit Zufriedenheit empfindet. Alexander, der über Meditation seine Achtsamkeit verstärkt und Mitgefühl mit allen lebenden Wesen inklusive der Natur empfindet und Tanja, die alles mit anderen teilt. Die Autorinnen versuchen aus den Interviews abzuleiten, welches Verhalten typischerweise zum suffizienten Lebensstil gehört und wie er zu einem besseren Wohlbefinden beiträgt.
Die vorgestellten Vorbilder repräsentieren heute noch eine verschwindende Minderheit. Sie nennen hemmende und fördernde Faktoren für ihren Lebensstil, auf persönlicher Ebene, im Umfeld und in der Gesellschaft. Als einer der grössten Knackpunkte erweist sich das Fliegen: Es ist mit einem suffizienten Lebensstil unvereinbar. Doch da ist der "Zwang" zu fliegen, für den Beruf, die Beziehungspflege oder zur Befriedigung der Neugier und des Wissensdursts. Für eine gesellschaftliche Entwicklung hin zu mehr Suffizienz sehen sie Handlungsfelder etwas in der Bildung, die den notwendigen gesellschaftlichen Wertewandel ermöglichen soll, oder in den Rahmenbedingungen für die Mobilität. Kaum ein Thema der globalen Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, das nicht auch den Frauen und Männern ein Anliegen ist, die einen nachhaltigen Lebensstil bereits pflegen.
Die Ergebnisse der Befragungen ergänzen die Autorinnen mit den Resultaten ihres Austauschs im Rahmen eines Workshops mit Fachleuten aus Forschung und Praxis. Vorgeschlagen werden sieben Massnahmenpakete in den Bereichen Bildung, Kommunikation von Vorbildern, gemeinschaftliche Initiativen, Wandel/Einschränkung von Werbung, alternative Arbeitszeitmodelle, multifunktionelle Räume und Vernetzungsmöglichkeiten.
"Genug genügt" ermöglicht eine Annäherung an einen suffizienten Lebensstil über Theorie und Praxisentwürfe, und illustriert, wie unterschiedlich suffiziente Lebensstile sein können. Die Lektüre hilft bei der Verortung des eigenen Verhaltens und gibt eine Fülle von Ideen, wie Suffizienz Alltag, Selbstverständnis und Beziehungen bereichern kann.
Marion Leng, Kirstin Schild, Heidi Hofmann: Genug genügt. Mit Suffizienz zu einem guten Leben. oekom verlag München, 2016, 142 Seiten; CHF 28.90, EUR 19.95. ISBN-13: 978-3-86581-815-7