Getrennte Welten
Nach einer Wanderung zur Ruinenstadt Machu Picchu sind Reisende bestens informiert über sämtliche Details im Alltag der letzten Inka. Über das Leben ihrer peruanischen Träger, die sie vier Tage lang entlasten, bekochen und führen, erfahren sie hingegen nichts. Sonst würden sie verstehen, dass ihre Tour nur so günstig sein kann, weil sich die Reiseagenturen über arbeitsrechtliche Vorschriften hinwegsetzen. Und dass es in ihrer Macht liegt, sich für einen fairen Anbieter zu entscheiden.
Leoncio Monteagudo arbeitet seit 27 Jahren als Träger und Koch auf dem Inka-Pfad, jenem Wanderweg im Süden von Peru, der in vier Tagen durch zerklüftete Berge und dichte Wälder zur Ruinenstadt Machu Picchu führt. Als er 1986 seinen Job begann, waren jährlich etwa 9’000 BesucherInnen auf dem schmalen Bergpfad unterwegs, meist erfahrene Wanderer, die mit der Höhe zurechtkamen und ihre Ausrüstung selbst trugen.
Doch noch im gleichen Jahr begann der Reiseveranstalter Explorandes, Touren mit Rundum-Service anzubieten: Auf einmal standen den Wanderern gekochte Mahlzeiten, Zelte und Ausrüstung zur Verfügung, bereitgestellt von Trägern aus den Hochlanddörfern Willoc und Ollantaytambo, wo auch Leoncio herkommt. Mit dem Komfort stieg auch die Besucherzahl drastisch an: Mittlerweile wandern jährlich 60’000 Touristen auf dem Inka-Pfad – und auf dem Weg dorthin reisen sogar über eine Million BesucherInnen jährlich durch Leoncios Tal.
Schon im "Tawantinsuyu", dem Reich der Inka vor der spanischen Eroberung, gab es den Beruf des Trägers, des Chasquis; er gewährleistete die Kommunikation und den Warentransport auf dem riesigen Wegenetz der Inka. Dieses System funktionierte so gut, dass die Inka in nur zwei Tagen frischen Fisch vom Ozean in die gut 300 Kilometer entfernte (und gut 3400 Meter hoch gelegene) Andenhauptstadt Q’osco (das heutige Cusco) transportieren konnten – zu Fuss wohlgemerkt. Diese Arbeit brachte den Chasquis grosses Ansehen ein.
Nach der spanischen Eroberung verschwanden die Inka-Pfade und die Rolle der Chasquis aus dem Gedächtnis. Bis zum Jahre 1911. Damals berichtete das Magazin National Geographic über den Plan eines US-amerikanischen Archäologen namens Hiram Bingham, der das letzte Versteck und die angeblichen Schätze der Inka finden wollte. Das verlorene Gold fand Bingham nicht, doch dafür fand er Machu Picchu und den Inka-Pfad, die seither fürwahr zur Goldmine geworden sind. Der Inka-Pfad blieb ein entlegenes Reiseziel, bis sich Peru nach einer langen Zeit der Bürgerkriege und Despoten stabilisiert hatte.
Eine Idee aus dem Himalaya
Mit den TouristInnen erschienen auch die ersten Trekkingunternehmen im Vilcanota-Tal, in dem Ollantaytambo und Machu Picchu liegen – darunter auch Explorandes von Alfredo Ferreyro. Ferreyro war 1986 zu einer Tourismuskonferenz nach Nepal gereist, wo er erfuhr, wie die Sherpa die TouristInnen auf dem "Anapurna Circuit" rundum versorgen. Er dachte an Peru: Die Chasquis waren längst im Nebel der Geschichte verschwunden, doch die verarmten Bauern der Hochlandgemeinden stellten reichliche, günstige Arbeitskräfte dar. So brachte Ferreyro das Sherpa-System mit nach Peru, wo es schnell zur Norm wurde. Für den damals 20-jährigen Leoncio bot dies eine ausgezeichnete Gelegenheit, um bezahlte Arbeit in einer Region zu finden, in der die meisten Menschen von landwirtschaftlicher Selbstversorgung lebten.
Seit 1986 hat sich für die Träger und Reiseleiter viel geändert, und einiges zum Besseren. In den 1990er Jahren sollen manche Träger bis zu 50 Kilogramm getragen haben; mit dem Trägergesetz von 2001 wurde zwar ein Maximalgewicht von 25 Kilogramm eingeführt, doch die Einhaltung wird bislang kaum überprüft. Genau wie es seit 2004 Besucherlimits gibt – maximal 500 Touristen täglich dürfen auf den Pfad –, so gibt es auch für die Träger eine Begrenzung. Daher tendieren die Veranstalter dazu, ihre Träger so stark wie möglich zu beladen, um ihre Belegschaft klein zu halten.
Das Trägergesetz hält ausserdem das Recht auf angemessene Ausrüstungen, Gehälter, Verpflegung und Unterkünfte sowie eine Lebensversicherung fest. Die allermeisten der heute 187 Agenturen setzen sich jedoch über die gesetzlichen Standards hinweg. Zwar gibt es Behörden, die die Einhaltung des Gesetzes überwachen, doch während unseres Filmdrehs im Jahre 2008 konnten die Agenturen sie leicht bestechen. Ausserdem verkauften Regierungsbeamte Sondergenehmigungen für den Inka-Pfad. Solche Fälle von Missbrauch und Korruption sind jedoch seltener geworden, seit die Nationalparkbehörde SERNANP statt wie zuvor das Nationale Kulturinstitut INC und das Umweltinstitut INRENA für die Einhaltung der Auflagen sorgt.
Viele Träger und Reiseführer bekommen für vier Tage schwerer Arbeit nur 80 peruanische Sol, umgerechnet knapp 20 Euro; davon müssen sie auch noch die Hin- und Rückreise zum Inka-Pfad bezahlen. Viele Agenturen bieten auch keine richtige Ausrüstung an, sodass sie Lasten von mehr als 30 Kilogramm mit Stoffstücken und Schnüren tragen. Und letztlich werden viele auch um diese mageren Gehälter betrogen oder am Ende des Weges schlichtweg ausgenommen.
Zwiespältiges Verhältnis
Die Träger und ihre Familien haben eine zwiespältige Beziehung zu den Touristenhorden, die in ihren Dörfern aufkreuzen. Einerseits wollen und brauchen die meisten Männer die Arbeit, die der Inka-Pfad bietet, und viele Frauen verdienen ihren Lebensunterhalt, indem sie ihre Stoffe an die BesucherInnen verkaufen. Wirtschaftliche Alternativen in dieser ansonsten verarmten Region gibt es nicht. Andererseits widerstrebt ihnen die Tatsache, dass sie in den Dörfern zur Schau stehen, wenn Busladungen von AusländerInnen Fotos von ihnen machen.
Freundschaftliche Beziehungen zwischen Trägern und TouristInnen gibt es auf dem Inka-Pfad nur selten, teils wegen der Sprachbarriere – die meisten Träger sprechen die Quechua-Sprache Runa Simi –, aber auch, weil die Träger extrem lange Arbeitszeiten und wenig Zeit für Geselligkeit haben. Sie durchwandern den Inka-Pfad in getrennten Welten. Dabei könnten beide Seiten von engeren Beziehungen profitieren.
Angesichts der riesigen Mengen von Geld, die durch das Tal fliessen, ist es überraschend zu sehen, welcher Mangel in den Dörfern herrscht. Die im Tourismus beschäftigten Familienväter sind selten zu Hause, Alkoholismus ist verbreitet und Armut tief verwurzelt. Da Frauen und Männer im Tourismus beschäftigt sind, geht altes landwirtschaftliches Wissen, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, verloren; die einstigen Selbstversorger sind von der monetären Kultur abhängig geworden.
Die meisten Behörden und Reiseveranstalter versichern auf ihren Websites, für das Wohl ihrer Angestellten zu sorgen und Entwicklungsanreize zu schaffen; doch solche Behauptungen sind in den meisten Fällen stark übertrieben. Die Touristenhandbücher tragen unwissentlich dazu bei, diese Fehlinformation noch zu verbreiten.
2001 gründete sich die "Federación Regional de Porteadores", die Gewerkschaft der Träger des Inka-Pfads. Damals wurde die Initiative vom Lokalpolitiker Daniel Estrada Perez unterstützt, der auch bei der Durchsetzung des Trägergesetzes eine wichtige Rolle spielte. Auch Leoncio ist Mitglied in der Gewerkschaft, doch wie viele seiner Kollegen steht er ihr kritisch und misstrauisch gegenüber: Die letzte Gewerkschaftsführung konnte keine realen Erfolge aufweisen und soll angeblich Gelder unterschlagen haben. Ihre gerade gewählten Nachfolger geben Anlass zur Hoffnung, sie haben ehrgeizige Pläne für die Träger und ihre Dörfer angekündigt. Doch die Situation ist heikel, denn die neue Führungsriege muss das Vertrauen der Träger erst einmal gewinnen.
Darüber hinaus erarbeitet die peruanische Regierung gerade ein neues Trägergesetz, das Verstösse voraussichtlich strenger ahnden soll. Vor allem aber wäre es wichtig, der ungleichen Machtverteilung zwischen den Trägern und ihren Arbeitgebern entgegenzuwirken. Das ist dringend notwendig: Denn nach dem derzeitigen Gesetz sind die Träger selbst verantwortlich, falls sie zu viel schleppen, obwohl die Agenturen die Beladung anordnen. Das neue Gesetz muss ausserdem für mehr Transparenz bei den Reiseveranstaltern sorgen und den vielen unverantwortlichen Reiseveranstaltern auf die Füsse treten.
Die Verantwortung der Reisenden
Doch auch die TouristInnen selbst können etwas gegen die beklagenswerten Arbeitsbedingungen auf dem Inka-Pfad tun, indem sie ihre Reiseagentur vor Ort gewissenhaft aussuchen. Wenn fair handelnde Agenturen mehr Zulauf bekommen und damit auch bessere Einnahmen verbuchen, werden andere folgen. Doch dafür müssen die Reisenden wissen, wie sie sich im Gewirr lokaler Agenturen orientieren können.
Leider lassen viele TouristInnen ihre Touranbieter schon vorab durch Reisebüros auswählen und verzichten auf ihre direkte Einflussmöglichkeit. Doch auch wenn sie selbst die Wahl treffen: Wie sollen sie als Laien beurteilen, welche Agenturen ihr Personal fair behandeln?
Hier setzt unser Dokumentarfilm "Porters of the Inca-Trail" ("Die Träger des Inka-Pfads") und die Website porters.matchboxmedia.org an*; sie sollen BesucherInnen helfen, die sozialen Realitäten ihrer Urlaubsregion schon vorab zu verstehen und ihre Entscheidungen danach auszurichten.
Leoncio hat Glück gehabt: Er arbeitet für den hochpreisigen Veranstalter "Peruvian Odyssey", der als einer der wenigen die Auflagen des Trägergesetzes befolgt. Zu Beginn des Booms hatte sein Dorf Ollantaytambo noch keinen Strom und bezog sein Wasser von einem alten Bewässerungssystem der Inka. Heute hat Leoncios Familie ein gesichertes Auskommen; er bekocht wohlhabende Wanderer auf dem Inka-Pfad, seine Frau besitzt ein Restaurant und ihre Kinder können zur Schule gehen. Die meisten Träger hingegen leben nach wie vor in grösster Armut und ohne Gesundheitsversorgung; sie können nur hoffen, dass ihre Kinder es einmal besser haben werden.