1. Von Krisen und der Scheidung der Geister 
Wir taumeln von einer Krise in die andere; nach der Krise ist vor der Krise. Sei es die Finanzkrise von 2008, die noch lange nicht ausgestanden ist, die Klimakrise, die verschiedenen Wirtschaftskrisen, die Krisenherde in Nahost und Afrika, die politischen Krisen in Venezuela, Brasilien oder der Ukraine, die Eurokrise, aber auch die so genannte Sicherheitskrise aufgrund von Terrorismus, Bürgerkriegen und Söldnerheeren, und nicht zuletzt eine tief greifende Sinnkrise in grossen Teilen der abendländischen Zivilisation: sie alle weisen darauf hin, dass es sich heute um eine Zeit der "Entscheidung", der Scheidung der Geister, handelt.
Wie beängstigend Krisen auch sein mögen, sie haben fast immer auch eine läuternde Wirkung: das Wesentliche gelangt wieder in den Blickpunkt, und Unwesentliches rückt in den Hintergrund. Was aber ist das Wesentliche angesichts der Krisengestalt, in der sich aktuell die Welt befindet? Es geht im Wesentlichen um eine Krise des Menschenbilds und des Lebens, aber auch der Demokratie, wie sie sich im westlichen Kulturkreis entwickelt hat. Das seit der europäischen Aufklärung und dem Anfang des Siegeszugs des Kapitalismus vorherrschend gewordene Menschenbild wurde von Thomas Hobbes – allerdings bei ihm als Beschreibung eines "barbarischen" Urzustands – treffend beschrieben: Homo homini lupus – der Mensch ist dem Menschen ein Wolf!
Die neuzeitliche abendländische Anthropologie, die im Zeichen von Befreiung, Gleichberechtigung und Solidarität entstanden ist, hat sich unter der instrumentellen Vernunft von Gewinnmaximierung und strukturellem Egoismus in ihr Gegenteil verkehrt. Heute steht der Homo Occidentalis für Skrupellosigkeit, Entsolidarisierung, Ausbeutung von Natur und Mensch, Zynismus und hedonistischen Materialismus. TINA – There is no Alternative, tönt es seit über dreissig Jahren aus den ansonsten so auf Freiheit bedachten Think Tanks eines vom Abendland ausgehenden Turbo-Kapitalismus.
Aber gibt es wirklich keine Alternativen? Viele von uns starren wie gelähmt auf das Kaninchen, das uns die Medien tagtäglich aus dem Hut zaubern: ohne Wachstum gehe es nicht, wir seien zum grenzenlosen Konsum verdammt, wollen wir nicht Arbeitsplätze gefährden, und die wirkliche Solidarität mit den "Verdammten dieser Erde" (Franz Fanon) bestehe darin, die Märkte noch weiter zu liberalisieren und zu deregulieren. Wie schon viele kritische Intellektuelle angemerkt haben, handelt es sich beim heute vorherrschenden Wirtschaftsmodell und der dazu gehörenden Politform um ein zutiefst nekrophiles Menschen- und Weltbild. Dabei beruft sich genau dieses Abendland auf die so genannten "christlichen Grundwerte", und es gibt nicht wenige, die diese nicht etwa aufgrund des vorherrschenden Menschen- und Weltbilds in Gefahr sehen, sondern aufgrund von Menschen, die aus dem globalen Süden an unsere Pforten klopfen und um Asyl bitten.

2. Das andine „Gut Leben“

Ohne das Widerstandspotenzial gegen den nekrophilen Zeitgeist, das sich in der abendländischen Tradition finden lässt, zu schmälern, möchte ich eine Denkfigur vorstellen, die aus dem nicht-abendländischen Kontext der südamerikanischen Anden stammt und in letzter Zeit auch immer mehr als eine der Alternativen gegen die Alternativlosigkeit hierzulande herumgeboten wird. Es handelt sich um die Metapher oder das Ideal des Vivir Bien (suma qamaña; allin kawsay) oder Buen Vivir (sumak kawsay), auf Deutsch etwas ungeschützt als "Gutes Leben" übersetzt.
Der Begriff des "Guten Lebens" ist keine neue Idee und auch nicht der andinen Welt und noch viel weniger der Aymara-Kultur vorbehalten. Im Abendland hat Aristoteles das Ideal des "Guten Lebens" (éubios) als ein Leben in der Mitte von zwei Extremen definiert; es handelt sich um ein Ideal für den "freien Mann", also den erwachsenen männlichen Menschen, der in der Polis lebt und ein Grundstück besitzt. Das "Gute Leben" war also weder für die Frauen, noch die Kinder, SklavInnen, AusländerInnen oder Nicht-BürgerInnen (also Bewohner auf dem Land ohne Stimm- und Wahlrecht) bestimmt. Es handelt sich um ein sehr elitäres, androzentrisches und individualistisches Ideal. Der Epikureismus nahm später dieses Ideal auf und interpretierte es im Sinne der "Unerschütterlichkeit" (Ataraxie) der Seele, angereichert durch den hohen Wert der Freundschaft. Die abendländische Postmoderne greift dieses Ideal der Antike auf, aber diesmal in einem hedonistischen Sinne als ein "bequemes, angenehmes Leben im Überfluss". In diesem Sinne passt das postmoderne "Gute Leben" sehr gut zu den neoliberalen Ideologien von "Wachstum" und "Fortschritt".
Der Ansatz des "Gut Leben" (und nicht des "Guten Lebens"), wie er seitens der indigenen Kulturen vorgebracht wird, hat einen völlig anderen philosophischen und weisheitsmässigen Hintergrund. Die indigenen Kosmovisionen von Abya Yala (so die indigene Bezeichnung für "Amerika") teilen weder die kreisförmige Konzeption der griechisch-römischen Welt, noch das lineare und progressive Zeitverständnis der jüdisch-christlichen Tradition. Vielmehr gehen sie von einem zyklischen Begriff der Zeit aus, wie er sich in der Metapher der Spirale spiegelt und durch die Merkmale von Diskontinuität (pachakuti), Umkehrbarkeit, Qualität und Heterogenität zum Ausdruck kommt. Für den andinen Menschen liegt zum Beispiel die Zukunft (qhipa pacha) hinter (qhipa) und die Vergangenheit (naira oder ñawpa pacha) vor uns. Man hält die Augen (naira; ñawi) auf die Vergangenheit gerichtet, die bekannt und somit Orientierungshilfe für den Weg ist, aber man geht im Rückwärtsgang in eine unbekannte Zukunft (im Rücken).
Daraus ergibt sich die Idee einer "rückwärtsgewandten Utopie", ein Ideal, das aus einer unabgeschlossenen Vergangenheit hervorgeht, die in sich wirklich nachhaltige Alternativen zu bieten hat, die mit der Natur, der gesamten Menschheit und den künftigen Generationen vereinbar sind. Diese "Utopie" inkarniert sich im amerindianischen "Gut Leben" und hat kulturelle, wirtschaftliche, soziale, spirituelle und politische Auswirkungen. Dieses Ideal floss in die neuen Staatsverfassungen von Ecuador (2008) und Bolivien (2009) ein und ist zum Beispiel Teil der politischen Richtlinien der bolivianischen Regierung. Aber was besagt denn dieses Ideal, und in welchem Masse ist es operationalisierbar, bzw. auf unsere Problematik im globalen Norden anwendbar? 

3. „Leben“ in einem umfassenden Sinne

In Kontrast zur westlichen Auffassung des "Lebens" als biologischer Kategorie für die drei Stufen von "Lebewesen" (Pflanzen, Tiere, Menschen) und religiöser Begriff für eine transzendente Wirklichkeit hebt das andine Ideal eine Reihe von Merkmalen hervor, die der abendländischen Weltsicht diametral entgegengesetzt sind oder diese zumindest als nur beschränkt gültig ins Auge fassen.
Erstens einmal spiegelt das Suma Qamaña oder Allin Kawsay eine nicht-anthropozentrische und nicht-biologistische Auffassung des "Lebens", sondern eine kosmozentrische und holistische. Dies bedeutet, dass es für die indigenen Kosmovisionen und Philosophien keine Scheidung oder Dichotomie gibt zwischen dem, was Leben hat ("Lebewesen") und dem, was (dem Abendland zufolge) kein Leben hat ("unbelebte Materie"). Der Kosmos oder die Pacha ist ein lebendiger Organismus, dessen "Teile" zueinander in enger Beziehung (Relationalität) und Interdependenz stehen, und zwar so, dass sich das Leben oder die "Lebendigkeit" je nach dem Grad des Gleichgewichts oder der Harmonie untereinander bestimmen lässt. Deshalb unterscheidet sich dieser Ansatz radikal vom abendländischen Paradigma eines Individualismus oder Atomismus, der von der Selbstgenügsamkeit der vereinzelten "Substanz" ausgeht und – in der kapitalistischen Wirtschaftstheorie – eine konfliktive Anthropologie des Wettbewerbs und Ausschlusses vertritt.
Zweitens umfasst das "Leben" und das Ideal des "Gut Leben" auch die nicht-menschliche Natur und den gesamten Kosmos, der auch die spirituelle und religiöse Welt mit einschliesst. Es gibt keine soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit, also eine Harmonie unter den Menschen, wenn zugleich das ökologische und transgenerationelle Gleichgewicht in Mitleidenschaft gezogen wird. Deshalb zielt das Ideal des "Gut Leben" auf ein harmonisches Zusammenleben des Menschengeschlechtes mit seiner natürlichen Umwelt, der spirituellen Welt und den zukünftigen Generationen ab. Eine wirtschaftliche und politische Haltung, die auf Prinzipien beruht, welche die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen zerstört (eine Art von après nous le déluge) und welche den Luxusgütern vor den Lebens-Mitteln und den ethischen und spirituellen Werten den Vorzug gibt, ist weder vernünftig noch nachhaltig.
Drittens stellt das amerindianische Ideal des "Gut Leben" die abendländische Ideologie des "Entwicklungsgedankens" und die Prinzipien des neoliberalen "unbeschränkten Wachstums" radikal in Frage. Der wahre "Fortschritt" besteht weder in einer Anhäufung von Konsum- und Produktionsgütern, noch in der Gewinnmaximierung eines Unternehmens, sondern im Mass der gerechten und gleichmässigen Verteilung des bestehenden Reichtums und im vernünftigen Gebrauch der natürlichen und menschlichen "Ressourcen". Es gibt keinen "Fortschritt", wenn einige zurückbleiben oder gar als "überflüssig" gelten. Der irrsinnige Wettlauf des "Wirtschaftswachstums" und des ungebremsten Konsumzwangs um jeden Preis führt nicht zu mehr "Fortschritt", sondern zu einem unausweichlichen "Rückschritt" des Lebens.

4. „Gut Leben“ als Einklang und Konvivenz

Das indigene "Gut Leben" Lateinamerikas ist – wie gezeigt – ohne seine philosophische und zivilisatorische Verwurzelung in den jahrtausendealten Traditionen nicht zu verstehen. Es geht – im Vergleich zur abendländischen Weltanschauung – um total andere Welt- und Menschenbilder, die nur zum Teil miteinander kompatibel sind. Während die abendländische Moderne die Welt seit Descartes als "Maschine" und unerschöpfliche Ressource für die menschliche Selbstverwirklichung sieht, ist diese in amerindianischer Perspektive ein "Organismus", ein lebendiges Wesen, das von intakten Beziehungen und Verbindungen lebt. Etwas plakativ gesagt: abendländisches Denken bevorzugt das vereinzelte Seiende (Substanz, Individuum), während indigenes Denken auf dem Vorrang der Beziehung (Kräfte, Energien) aufbaut.
Bei der indigenen Vorstellung geht es nicht um einen an Gütern oder Besitz messbaren individuellen Lebensstil (eben das postmoderne und hedonistische "gute Leben"), sondern um eine Haltung, um eine ganzheitliche und umfassende Art und Weise, das Leben insgesamt (das weit über das Biologische hinaus geht) zu gestalten und aufrechtzuerhalten. Es geht, um es verkürzt zu sagen, um die "gute" Art und Weise zu leben. Dies impliziert im indigenen Verständnis notwendigerweise eine Ausrichtung auf und die Begründung durch das Ganze (pacha). Ohne die spirituelle und religiöse Dimension, die im Sinne einer einseitigen Emanzipation des Menschen von der abendländischen Aufklärung ausgesondert worden ist, ist das Ideal des andinen "Gut Leben" nicht zu verstehen und entbehrt auch der eigentlichen Sinnhaftigkeit.
"Gut leben" meint deshalb zuallererst das Ideal, im Einklang mit dem kosmischen, spirituellen, religiösen und natürlichen Gleichgewicht und seinen Ordnungsgesetzen zu leben. Nur wenn das menschliche Leben mit der Natur, den Urahnen (Geistwelt), dem Göttlichen und den zukünftigen Generationen im Einklang (Gleichgewicht, Harmonie) ist, gilt es als "gut" in einem umfassenden Sinne. "Gut leben" meint deshalb schon von Anfang an "gut zusammenleben" (Konvivenz), also eine Existenz in einem umfassenden Beziehungsgefüge, in dem der einzelne Mensch einen bestimmten "Ort", eine spezifische "Funktion" einnimmt, aber niemals als Subjekt einer objektiven leblosen Natur gegenübersteht und nach Belieben über diese verfügt.
Das indigene "Gut leben" der südamerikanischen Anden (wie auch anderer indigener Traditionen) steht deshalb in schroffem Gegensatz zu wichtigen Prinzipien abendländischen Denkens, wie es sich in der Neuzeit herausgebildet und im Zuge von Kolonialisierung, Industrialisierung und wirtschaftlicher Globalisierung zum "einzig gültigen Denken" entwickelt hat. Zuerst einmal ist die Vorstellung eines in sich und für sich existierenden Individuums, aber auch einer von der Natur völlig losgelösten Menschheit für andines indigenes Verständnis etwas Absurdes. Leben ist Beziehung, und ohne Beziehung gibt es kein Leben. Deshalb gehört es zur "Ursünde" der abendländischen Neuzeit, den Menschen vermeintlich von der Natur und der spirituellen Welt losgekoppelt zu haben, und dies zudem als prometheischer Freiheitsakt anzusehen. Die Folgen sind Tod in der Gestalt von Klimaveränderung, Einsamkeit, Depression, Suizid, Suchtverhalten und anderen "Zivilisationskrankheiten" der nördlichen Hemisphäre.

5. Demokratie und Vivir Bien

Das andine "Gut Leben" basiert auf einer nicht-formalen Auffassung von Demokratie, bei der nicht nur der Mensch Träger von Rechten und Pflichten ist, sondern zum Beispiel auch die Pachamama (Mutter Erde). Die Entscheidungsfindung erfolgt aufgrund eingehender Debatten, bei dem es keine Mehrheitsentscheide gibt, sondern immer der Konsens angestrebt wird. Dabei figuriert der Mensch als "Anwalt" der Mutter Erde und des ganzen Kosmos, als "Hüter" eines fragilen Gleichgewichts und einer Reziprozität, die über den Tod hinaus und bis ins Religiöse hinein Gültigkeit behält.
Die konkrete Gestaltung des "Gut Lebens" als gutes Zusammenleben erfordert deshalb die Beteiligung aller, denn dieses Ideal kann keines einer Minderheit, aber auch keiner Mehrheit sein, sondern muss unter allen Akteuren "verhandelt" werden. Was "gut" für die einen ist, darf nicht "schlecht" für die anderen sein und umgekehrt. Das Prinzip umfassender (kosmischer) Gerechtigkeit erfordert eine substanzielle Demokratie, bei der es inhaltlich um die Gestaltung der Erde und die Erhaltung, Förderung und Vertiefung des Lebens in all seinen Formen geht. Und damit ist auch klar, dass die Gestaltung des gemeinsamen Hauses, eben die ‹Ökonomie›, nicht Gegenstand einiger weniger sein, sondern Ergebnis demokratischer Prozesse, bei denen alle beteiligt sind.
Die Demokratieform des "Guten Lebens" beschränkt sich nicht auf den und die BürgerIn als Subjekt von Rechten, Pflichten und Entscheidungen, sondern erstreckt sich auf alle Lebewesen. Statt dem "Bürgerrecht" müsste man vom "Lebensrecht" reden, also vom Recht auf ein "Gut Leben" in Harmonie mit allen Wesen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Diese "pachasophische" Erweiterung der Demokratie und des Rechtsbegriffs widerspricht dem abendländischen Subjektgedanken des mündigen menschlichen Subjekts, wird aber angesichts der Zerstörung des natürlichen Gleichgewichts und der gnadenlosen Ausbeutung so genannter "Ressourcen" immer dringender. 

2. Das andine „Gut Leben“

Ohne das Widerstandspotenzial gegen den nekrophilen Zeitgeist, das sich in der abendländischen Tradition finden lässt, zu schmälern, möchte ich eine Denkfigur vorstellen, die aus dem nicht-abendländischen Kontext der südamerikanischen Anden stammt und in letzter Zeit auch immer mehr als eine der Alternativen gegen die Alternativlosigkeit hierzulande herumgeboten wird. Es handelt sich um die Metapher oder das Ideal des Vivir Bien (suma qamaña; allin kawsay) oder Buen Vivir (sumak kawsay), auf Deutsch etwas ungeschützt als "Gutes Leben" übersetzt.
Der Begriff des "Guten Lebens" ist keine neue Idee und auch nicht der andinen Welt und noch viel weniger der Aymara-Kultur vorbehalten. Im Abendland hat Aristoteles das Ideal des "Guten Lebens" (éubios) als ein Leben in der Mitte von zwei Extremen definiert; es handelt sich um ein Ideal für den "freien Mann", also den erwachsenen männlichen Menschen, der in der Polis lebt und ein Grundstück besitzt. Das "Gute Leben" war also weder für die Frauen, noch die Kinder, SklavInnen, AusländerInnen oder Nicht-BürgerInnen (also Bewohner auf dem Land ohne Stimm- und Wahlrecht) bestimmt. Es handelt sich um ein sehr elitäres, androzentrisches und individualistisches Ideal. Der Epikureismus nahm später dieses Ideal auf und interpretierte es im Sinne der "Unerschütterlichkeit" (Ataraxie) der Seele, angereichert durch den hohen Wert der Freundschaft. Die abendländische Postmoderne greift dieses Ideal der Antike auf, aber diesmal in einem hedonistischen Sinne als ein "bequemes, angenehmes Leben im Überfluss". In diesem Sinne passt das postmoderne "Gute Leben" sehr gut zu den neoliberalen Ideologien von "Wachstum" und "Fortschritt".
Der Ansatz des "Gut Leben" (und nicht des "Guten Lebens"), wie er seitens der indigenen Kulturen vorgebracht wird, hat einen völlig anderen philosophischen und weisheitsmässigen Hintergrund. Die indigenen Kosmovisionen von Abya Yala (so die indigene Bezeichnung für "Amerika") teilen weder die kreisförmige Konzeption der griechisch-römischen Welt, noch das lineare und progressive Zeitverständnis der jüdisch-christlichen Tradition. Vielmehr gehen sie von einem zyklischen Begriff der Zeit aus, wie er sich in der Metapher der Spirale spiegelt und durch die Merkmale von Diskontinuität (pachakuti), Umkehrbarkeit, Qualität und Heterogenität zum Ausdruck kommt. Für den andinen Menschen liegt zum Beispiel die Zukunft (qhipa pacha) hinter (qhipa) und die Vergangenheit (naira oder ñawpa pacha) vor uns. Man hält die Augen (naira; ñawi) auf die Vergangenheit gerichtet, die bekannt und somit Orientierungshilfe für den Weg ist, aber man geht im Rückwärtsgang in eine unbekannte Zukunft (im Rücken).
Daraus ergibt sich die Idee einer "rückwärtsgewandten Utopie", ein Ideal, das aus einer unabgeschlossenen Vergangenheit hervorgeht, die in sich wirklich nachhaltige Alternativen zu bieten hat, die mit der Natur, der gesamten Menschheit und den künftigen Generationen vereinbar sind. Diese "Utopie" inkarniert sich im amerindianischen "Gut Leben" und hat kulturelle, wirtschaftliche, soziale, spirituelle und politische Auswirkungen. Dieses Ideal floss in die neuen Staatsverfassungen von Ecuador (2008) und Bolivien (2009) ein und ist zum Beispiel Teil der politischen Richtlinien der bolivianischen Regierung. Aber was besagt denn dieses Ideal, und in welchem Masse ist es operationalisierbar, bzw. auf unsere Problematik im globalen Norden anwendbar? 

3. „Leben“ in einem umfassenden Sinne

In Kontrast zur westlichen Auffassung des "Lebens" als biologischer Kategorie für die drei Stufen von "Lebewesen" (Pflanzen, Tiere, Menschen) und religiöser Begriff für eine transzendente Wirklichkeit hebt das andine Ideal eine Reihe von Merkmalen hervor, die der abendländischen Weltsicht diametral entgegengesetzt sind oder diese zumindest als nur beschränkt gültig ins Auge fassen.
Erstens einmal spiegelt das Suma Qamaña oder Allin Kawsay eine nicht-anthropozentrische und nicht-biologistische Auffassung des "Lebens", sondern eine kosmozentrische und holistische. Dies bedeutet, dass es für die indigenen Kosmovisionen und Philosophien keine Scheidung oder Dichotomie gibt zwischen dem, was Leben hat ("Lebewesen") und dem, was (dem Abendland zufolge) kein Leben hat ("unbelebte Materie"). Der Kosmos oder die Pacha ist ein lebendiger Organismus, dessen "Teile" zueinander in enger Beziehung (Relationalität) und Interdependenz stehen, und zwar so, dass sich das Leben oder die "Lebendigkeit" je nach dem Grad des Gleichgewichts oder der Harmonie untereinander bestimmen lässt. Deshalb unterscheidet sich dieser Ansatz radikal vom abendländischen Paradigma eines Individualismus oder Atomismus, der von der Selbstgenügsamkeit der vereinzelten "Substanz" ausgeht und – in der kapitalistischen Wirtschaftstheorie – eine konfliktive Anthropologie des Wettbewerbs und Ausschlusses vertritt.
Zweitens umfasst das "Leben" und das Ideal des "Gut Leben" auch die nicht-menschliche Natur und den gesamten Kosmos, der auch die spirituelle und religiöse Welt mit einschliesst. Es gibt keine soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit, also eine Harmonie unter den Menschen, wenn zugleich das ökologische und transgenerationelle Gleichgewicht in Mitleidenschaft gezogen wird. Deshalb zielt das Ideal des "Gut Leben" auf ein harmonisches Zusammenleben des Menschengeschlechtes mit seiner natürlichen Umwelt, der spirituellen Welt und den zukünftigen Generationen ab. Eine wirtschaftliche und politische Haltung, die auf Prinzipien beruht, welche die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen zerstört (eine Art von après nous le déluge) und welche den Luxusgütern vor den Lebens-Mitteln und den ethischen und spirituellen Werten den Vorzug gibt, ist weder vernünftig noch nachhaltig.
Drittens stellt das amerindianische Ideal des "Gut Leben" die abendländische Ideologie des "Entwicklungsgedankens" und die Prinzipien des neoliberalen "unbeschränkten Wachstums" radikal in Frage. Der wahre "Fortschritt" besteht weder in einer Anhäufung von Konsum- und Produktionsgütern, noch in der Gewinnmaximierung eines Unternehmens, sondern im Mass der gerechten und gleichmässigen Verteilung des bestehenden Reichtums und im vernünftigen Gebrauch der natürlichen und menschlichen "Ressourcen". Es gibt keinen "Fortschritt", wenn einige zurückbleiben oder gar als "überflüssig" gelten. Der irrsinnige Wettlauf des "Wirtschaftswachstums" und des ungebremsten Konsumzwangs um jeden Preis führt nicht zu mehr "Fortschritt", sondern zu einem unausweichlichen "Rückschritt" des Lebens.

4. „Gut Leben“ als Einklang und Konvivenz

Das indigene "Gut Leben" Lateinamerikas ist – wie gezeigt – ohne seine philosophische und zivilisatorische Verwurzelung in den jahrtausendealten Traditionen nicht zu verstehen. Es geht – im Vergleich zur abendländischen Weltanschauung – um total andere Welt- und Menschenbilder, die nur zum Teil miteinander kompatibel sind. Während die abendländische Moderne die Welt seit Descartes als "Maschine" und unerschöpfliche Ressource für die menschliche Selbstverwirklichung sieht, ist diese in amerindianischer Perspektive ein "Organismus", ein lebendiges Wesen, das von intakten Beziehungen und Verbindungen lebt. Etwas plakativ gesagt: abendländisches Denken bevorzugt das vereinzelte Seiende (Substanz, Individuum), während indigenes Denken auf dem Vorrang der Beziehung (Kräfte, Energien) aufbaut.
Bei der indigenen Vorstellung geht es nicht um einen an Gütern oder Besitz messbaren individuellen Lebensstil (eben das postmoderne und hedonistische "gute Leben"), sondern um eine Haltung, um eine ganzheitliche und umfassende Art und Weise, das Leben insgesamt (das weit über das Biologische hinaus geht) zu gestalten und aufrechtzuerhalten. Es geht, um es verkürzt zu sagen, um die "gute" Art und Weise zu leben. Dies impliziert im indigenen Verständnis notwendigerweise eine Ausrichtung auf und die Begründung durch das Ganze (pacha). Ohne die spirituelle und religiöse Dimension, die im Sinne einer einseitigen Emanzipation des Menschen von der abendländischen Aufklärung ausgesondert worden ist, ist das Ideal des andinen "Gut Leben" nicht zu verstehen und entbehrt auch der eigentlichen Sinnhaftigkeit.
"Gut leben" meint deshalb zuallererst das Ideal, im Einklang mit dem kosmischen, spirituellen, religiösen und natürlichen Gleichgewicht und seinen Ordnungsgesetzen zu leben. Nur wenn das menschliche Leben mit der Natur, den Urahnen (Geistwelt), dem Göttlichen und den zukünftigen Generationen im Einklang (Gleichgewicht, Harmonie) ist, gilt es als "gut" in einem umfassenden Sinne. "Gut leben" meint deshalb schon von Anfang an "gut zusammenleben" (Konvivenz), also eine Existenz in einem umfassenden Beziehungsgefüge, in dem der einzelne Mensch einen bestimmten "Ort", eine spezifische "Funktion" einnimmt, aber niemals als Subjekt einer objektiven leblosen Natur gegenübersteht und nach Belieben über diese verfügt.
Das indigene "Gut leben" der südamerikanischen Anden (wie auch anderer indigener Traditionen) steht deshalb in schroffem Gegensatz zu wichtigen Prinzipien abendländischen Denkens, wie es sich in der Neuzeit herausgebildet und im Zuge von Kolonialisierung, Industrialisierung und wirtschaftlicher Globalisierung zum "einzig gültigen Denken" entwickelt hat. Zuerst einmal ist die Vorstellung eines in sich und für sich existierenden Individuums, aber auch einer von der Natur völlig losgelösten Menschheit für andines indigenes Verständnis etwas Absurdes. Leben ist Beziehung, und ohne Beziehung gibt es kein Leben. Deshalb gehört es zur "Ursünde" der abendländischen Neuzeit, den Menschen vermeintlich von der Natur und der spirituellen Welt losgekoppelt zu haben, und dies zudem als prometheischer Freiheitsakt anzusehen. Die Folgen sind Tod in der Gestalt von Klimaveränderung, Einsamkeit, Depression, Suizid, Suchtverhalten und anderen "Zivilisationskrankheiten" der nördlichen Hemisphäre.

5. Demokratie und Vivir Bien

Das andine "Gut Leben" basiert auf einer nicht-formalen Auffassung von Demokratie, bei der nicht nur der Mensch Träger von Rechten und Pflichten ist, sondern zum Beispiel auch die Pachamama (Mutter Erde). Die Entscheidungsfindung erfolgt aufgrund eingehender Debatten, bei dem es keine Mehrheitsentscheide gibt, sondern immer der Konsens angestrebt wird. Dabei figuriert der Mensch als "Anwalt" der Mutter Erde und des ganzen Kosmos, als "Hüter" eines fragilen Gleichgewichts und einer Reziprozität, die über den Tod hinaus und bis ins Religiöse hinein Gültigkeit behält.
Die konkrete Gestaltung des "Gut Lebens" als gutes Zusammenleben erfordert deshalb die Beteiligung aller, denn dieses Ideal kann keines einer Minderheit, aber auch keiner Mehrheit sein, sondern muss unter allen Akteuren "verhandelt" werden. Was "gut" für die einen ist, darf nicht "schlecht" für die anderen sein und umgekehrt. Das Prinzip umfassender (kosmischer) Gerechtigkeit erfordert eine substanzielle Demokratie, bei der es inhaltlich um die Gestaltung der Erde und die Erhaltung, Förderung und Vertiefung des Lebens in all seinen Formen geht. Und damit ist auch klar, dass die Gestaltung des gemeinsamen Hauses, eben die ‹Ökonomie›, nicht Gegenstand einiger weniger sein, sondern Ergebnis demokratischer Prozesse, bei denen alle beteiligt sind.
Die Demokratieform des "Guten Lebens" beschränkt sich nicht auf den und die BürgerIn als Subjekt von Rechten, Pflichten und Entscheidungen, sondern erstreckt sich auf alle Lebewesen. Statt dem "Bürgerrecht" müsste man vom "Lebensrecht" reden, also vom Recht auf ein "Gut Leben" in Harmonie mit allen Wesen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Diese "pachasophische" Erweiterung der Demokratie und des Rechtsbegriffs widerspricht dem abendländischen Subjektgedanken des mündigen menschlichen Subjekts, wird aber angesichts der Zerstörung des natürlichen Gleichgewichts und der gnadenlosen Ausbeutung so genannter "Ressourcen" immer dringender.