Ein Handbuch zur Tourismuswissenschaft

Die Herausgeber dieses Handbuches haben sehr mutig das gewichtige Unterfangen in Angriff genommen, die äusserst verstreuten wissenschaftlichen Beiträge zum Tourismus – der an sich einen wissenschaftlich gelinde gesagt umstrittenen Stellenwert einnimmt – in ein "tourismuswissenschaftliches" Werk zu packen. Resultat ist ein über 600-seitiger Wälzer, der in Tourismusfachschulen Furore machen sollte, nicht zuletzt dank seinem wertvollen Sach- und Personenregister sowie den oft detaillierten weiterführenden Literaturhinweisen zu den einzelnen Artikeln. 72 AutorInnen aus verschiedenen Dispziplinen haben 111 Problemanalysen oder Literaturberichte erstellt zu den diversesten Aspekten der "Tourismusforschung", vom Problembereich Alkoholkonsum und Tourismus über den aktuellsten Stand der Motivationsforschung bis hin zur Verkehrssoziologie. Die Beiträge sind von unterschiedlicher Aussagekraft; nebst einigen wertvollen Überblicken zum aktuellen Forschungsstand in spezifischen Themenbereichen werden Fragen angeschnitten, deren Relevanz für die "Tourismuswissenschaft" schwer nachzuvollziehen bleibt oder Forschungsberichte erstattet, die seltsam ohne Querbezüge zu verwandten Themen im Raum bleiben. Das mag getreulich den "Allgemeinzustand" der "Tourismuswissenschaft" widerspiegeln; unklar bleiben jedoch einige der Ordnungsprinzipien oder Auswahlkriterien der Herausgeber. Gemeinsam ist den AutorInnen nämlich nur, dass sie allesamt aus dem deutschsprachigen Raum stammen, was der deutschen "Tourismuswissenschaft" zur Ehre gereicht, dem notwendigerweise interkulturellen Anspruch einer "Wissenschaft" über das interkulturelle Phänomen des Tourismus jedoch kaum zu genügen vermag. Die wichtigen Beiträge aus dem französischen oder anglo-amerikanischen Sprachraum, etwa aus Cultural Studies, Linguistik, Kommunikationsforschung etc., die ein neues Licht auf die "Tourismuswissenschaft" zu werfen vermögen, finden meist nur in den Bibliographien Eingang. Die sogenannten Bereisten kommen leider gar nicht zu Wort, vielleicht weil ihre Beiträge nicht "wissenschaftlich" sind? Überhaupt weder angesprochen noch gefordert sind geschlechtsspezifische Beiträge, wie wenn Ausgangsbedingungen und Verhalten von Frauen im Tourismus, sei es reisenden oder sogenannt gastgebenden, denjenigen der vorherrschenden Mittelstandsmänner im gut untersuchten Deutschland gleichkommen würden. Ihre Beweggründe zu Reisen, sich unterwegs gut oder schlecht zu verhalten, zufrieden zu sein oder nicht, sogar Alkohol zu konsumieren oder Sex zu kaufen, sind – getreu dem aktuellen Forschungsstand – gut dokumentiert; dabei wird die aufmerksame Leserschaft jedoch den Verdacht nicht los, dem "Messen" würde nach wie vor den Vorrang gegeben gegenüber dem "Verstehen". Zu bedauern ist auch, dass die vielen, zum Teil wertvollen Anregungen für weitere Untersuchungen oder Forschungsperspektiven sich in den einzelnen Artikeln verlieren und keine synthetische Aufarbeitung erfahren. Insofern liefert das gewichtige Handbuch mit all seinen Qualitäten und eklatanten Mängeln aber auch eine gute Grundlage, neue, spannende Forschungsfelder zu eröffnen, um Tourismus in seiner Bedeutung als Handlungsraum im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder interkulturellen Sinn besser zu verstehen.
Quintessenz-Verlag München 1993, 630 Seiten, DM 128.-