Rezension und Empfehlung von Literatur glObal, Arbeitsgruppe Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika - EvB

(Las dos muertes de Gardel, 2001. Aus dem argentinischen Spanischen von Petra Zickmann und Stine Lehmann)
Piper Verlag, München 2006
373 S., EUR 22.90, SFr. 40.10
ISBN 3-492-04740-8

Carlos Gardel gilt als bekanntester Tango-Sänger anfangs des 20. Jahrhunderts in Südamerika. Aber wer war dieser Mann eigentlich, um den sich so viele Geschichten und Legenden ranken? Sicher scheint, dass er am 24. Juni bei einem Zusammenstoss zweier Flugzeuge auf der Startbahn von Medellin in Kolumbien verstorben ist. Aber die Leichen sind derart zerrissen und unkenntlich, dass fraglich bleibt, ob wirklich Carlos Gardels sterbliche Überreste in einem Sarg nach Buenos Aires überführt und dort feierlich bestattet wurden, ja es werden sogar Zweifel geäussert, ob Gardel überhaupt in der Unglücksmaschine sass. Zudem ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Unfall ein Attentat war, das dem Piloten galt. So bleiben nicht nur die Umstände seines Todes, sondern sein ganzes Leben ein Rätsel. Hiess er Carlos Gardel oder Charles Gardés? War er in Toulouse als Sohn einer französischen Mutter oder in Tacuarembo in Uruguay als illegales Kind einer inzestuösen Beziehung geboren? Ja nicht einmal sein Geburtsdatum scheint zu stimmen, da er später sich selber einige Jahre jünger gemacht haben soll. Auch seine Staatsangehörigkeit ist zweifelhaft: Franzose, Uruguayer oder Argentinier? Was man auch klären will, es finden sich nur Ungereimtheiten und neue Fragen. Gardel scheint bewusst seine Spuren verwischt zu haben. Zeitlebens war er auf der Suche nach seiner eigenen Rolle und Identität.
Horacio Vázquez-Rial hat eine spannende Biografie des Geschichten umwobenen Tangosängers geschrieben, die aus verschiedenen Perspektiven mögliche Varianten des Lebens von Carlos Gardel erzählt. Es ist eindrücklich zu verfolgen, wie viele Leute versuchen, den geheimnisvollen Mann zum Idol zu machen und etwas von seinem Glanz, seinem Ruhm und seinem Geld zu erhaschen.
Der Autor hat noch einen anderen Tango-Roman („Tango, der dein Herz verbrennt“) geschrieben. Jene breit angelegte Erzählung über einen Jungen, der mit seinem Vater aus Deutschland nach Buenos Aires kommt und in der Welt des Tangos und des Bandoneons aufwächst, wirkt etwas weitschweifig und mit vielen zeitgeschichtlichen Bezügen und Zitaten überladen. Demgegenüber ist das vorliegende Buch über Carlos Gardel zwar auch sehr facettenreich, aber in seiner Fragestellung und Erzählintention viel geradliniger und packender erzählt. Eine spannende Lektüre, eine Lesefreude – nicht nur für Tango-Fans!

Michael Schwarz

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