Der Schreibwettbewerb "Die Basler Eule" wurde 1993 von der Basler Jugendschriftenkommission und dem Basler Buchhändler- und Verlegerverein gegründet. Auch dieses Jahr waren wieder Jugendliche und Kinder zwischen 10 und 18 Jahren aus der Region Basel dazu aufgerufen, sich fantasievolle Geschichten auszudenken. Das Thema des 15. Wettbewerbs der "Basler Eule" hiess "Sprach: Kein Problem – und lief davon". Mit dem gleichen Titel ist im November die Publikation erschienen, mit welcher die 20 besten der insgesamt 313 Texte der Jugendlichen dem Publikum vorgestellt werden.
Samuel Weissen, lotet in der folgenden Geschichte die Grenzräume von Karriere und Gewissen aus. Der 17-jährige KV-Lehrling bei der Bank Sarasin, spielt Fussball beim FC Biel-Benken und geht gerne mit Freunden raus. 
Die Sonne schien, als Miss Cartwright die luxuriöse Eingangshalle des Nobelhotels Paradise betrat. Die Hitze war ungewöhnlich, selbst für diese Jahreszeit in London, und so schwitzte der Gepäckträger von Miss Cartwright ganz gehörig, als er die Berge von Koffern und Taschen für mindestens ein halbes Jahr die Treppe hoch schleppte. So lange beabsichtigte die schrullige alte Adlige, im Hotel zu bleiben.

Gleichzeitig verliess der 28-jährige Harris Wilson das Hotel, in dem er soeben das Einschulungsprogramm zum Guest Relationship Manager absolviert hatte. Er fühlte sich prächtig in seiner neuen massgeschneiderten Uniform, welche er vom Hotel erhalten hatte. Er erinnerte sich noch genau an die Worte seines Ausbildners: «Auf jeden Wunsch des Kunden antworten Sie mit ‹Kein Problem, Sir›.» Das schien der Leitspruch dieses Nobelhotels zu sein.

Zufrieden mit sich und der Welt, wollte er Francine zu Hause von seiner erfolgreichen Anstellung im Paradise erzählen. Francine war seine attraktive neue Freundin, welcher man ansah, dass sie Armut nur aus den Medien kannte. «Na, hat’s funktioniert?», fragte sie neckisch. «Ja, wieso … was meinst du damit?», entgegnete Harris skeptisch. «Du weisst schon, die Extraspritze Vitamin B.» Harris erwiderte entrüstet: «Das hat damit nichts zu tun, und wenn du meinst …» «Ist ja schon gut, wen kümmert’s», fiel sie ihm ins Wort, «mach dich jetzt bereit für die Dinnerparty bei meinem Grossvater, deinem neuen Chef!»

Auf dem Weg zur Arbeit am nächsten Morgen dachte er über den kleinen Streit vom letzten Abend nach. Er war sich sicher, dass er Recht hatte. Vielleicht verdankte er seiner Freundin, dass er sich so schnell hatte vorstellen dürfen, das wäre möglich, aber dass Mister Griffiths ihn nach der Einschulungswoche definitiv übernommen hatte, war sein Verdienst. Im Endeffekt spielte es auch keine Rolle, denn die Hauptsache war, dass er seine Traumstelle erhalten hatte. Als er die Treppen zum Hotel emporstieg, begrüsste ihn der Page freundlich, und Harris wusste, dass heute ein guter Tag werden würde. Er ging in die Hotel halle und wartete auf die ersten Gäste. Bald sah er das rote Licht von Zimmer 352 aufblinken. Ah, Miss Cartwright, was die alte Dame wohl von ihm wollte? Er begab sich in den 3. Stock und klopfte vorsichtig an die Tür. «Herein!» Er ging hinein. «Kommen Sie her, junger Mann, und helfen Sie mir hier mit dem Koffer. Ich brauche etwas aus meinem Schrankkoffer und bin leider zu kurz. Hehe, nein im Ernst, gehen Sie auf alle Viere, damit ich meine Liste holen kann.» Einen kurzen Moment zögerte Harris. Da erinnerte er sich an den Leitspruch des Nobelhotels und erwiderte: «Kein Problem, Miss.» Sie stieg mit ihren Absatzschuhen auf seinen Rücken, und er unterdrückte ein paar böse Flüche. Fröhlich kletterte Miss Cartwright wieder hinunter und überreichte ihm eine Liste, welche ihm die Haare zu Berg stehen liess. 1001 weisse Orchideen, Salz aus dem Himalaya für das Bad, handgeschriebene Briefe an sämtliche Verwandten und Bekannten, zu versenden mit der Adresse ihres neuen Domizils, eine Rückenmassage um drei Uhr, Pedicure um vier, Coiffeur um fünf, und dazwischen natürlich Teatime mit Scones aus Schottland.

«Das wäre alles für heute, Sie können gehen.» Um zehn Uhr abends verliess Harris erschöpft das Hotel und ärgerte sich über die Alte mit ihren dreisten Wünschen. Würde wohl jeder Tag so enden, und würde er das durchhalten …? Während der restlichen Heimfahrt gab er sich seinen Träumen hin.

Am nächsten Morgen stand er frisch und gestärkt in der Halle und war bereit für die kommenden Aufträge. Nach wenigen Minuten erschien ein älterer Herr, der ihn mit einem finsteren Blick anstarrte. Harris Assistent flüsterte ihm ins Ohr: «Das ist Mister X, und er möchte auch nur mit Mister X angesprochen werden, aus Diskretionsgründen.» Sekunden später hörte Harris den alten Mann schreien: «James!» Harris brauchte einen Moment, bis er realisierte, dass er damit gemeint war. Er fand es einerseits komisch, andererseits schon fast absurd, dass die Gäste die Hotel angestellten nur mit James ansprachen. Doch das war in diesem Hotel Tradition. Er eilte also zu der resoluten Stimme. «Sie sind also der Neue?», sagte der alte Mann hochnäsig. «Ja, Mister X. Was wünschen Sie, Sir?», fragte James. «Sie müssen mir einen Gefallen tun, und seien Sie vergewissert, dass es sich für Sie lohnen wird.» «Ihr Wunsch ist mir Befehl, Sir», antwortete Harris standesgemäss. «Sie müssen veranlassen, dass dieses alte Lagerhaus, welches mir die schöne Aussicht versperrt, entfernt wird.» Harris traute seinen Ohren nicht, aber er tat, wie ihm geheissen, und antwortete: «Kein Problem, Sir.» Zufrieden verabschiedete sich Mister X und ging in sein Zimmer zurück. Harris musste sich zuerst erholen. Was hatte er da getan? Er hatte versprochen, ein Gebäude zu ‹entfernen›, auch wenn es sich nur um ein Lagerhaus handelte. Da er nicht weiterwusste, wandte er sich an den Besitzer des Hotels.

Mister Griffiths  empfing Harris herzlich, bot ihm gleich einen Schluck Champagner an und fragte, wie es so lief an seinem zweiten Tag. Nach kurzem Smalltalk kam Harris zur Sache. Er erzählte dem Grossvater seiner Freundin von dem absurden Wunsch von Mister X. «Ja, das ist alles sehr knifflig.» Harris war erleichtert. Dann gab ihm Mister Griffiths einen Zettel mit einer Nummer darauf. «Ruf diese Person an und leite ihr den Wunsch weiter, dann klappt das!» Harris wurde das zweite Mal an diesem Tag überrascht und schockiert. Rasch fügte Mister Griffiths hinzu: «Du gehörst ja schon fast zur Familie. Du bist intelligent, ehrgeizig und arbeitest hart, das gefällt mir. Ich habe noch eine Menge vor mit dir.» Harris war sprachlos. «Francine hat mir erzählt, dass du gerne einmal ein Hotel führen würdest, und ich habe mir gedacht, wenn du hier gute Arbeit leistest, würde ich dich nach ein paar Monaten zum Leiter unserer neuen Zweigstelle in Singapur machen. Was hältst du davon?» Dumme Frage, das war Harris Traum seit Kindertagen. Aber war dies der Preis dafür? Er stammelte: «Ja, das wär toll.» Nach einer freundschaftlichen Verabschiedung verliess Harris das grossräumige Büro des Chefs und ging zur Arbeit zurück. Er fühlte sich befreit und konnte sein Glück kaum fassen. Mister X’ Wunsch jedoch brachte ihn auf den Boden der Tatsachen zurück. Er hatte ein bisschen Angst, doch mit seinem Ziel vor Augen entschied er sich, die Nummer anzurufen. Eine dumpfe Stimme fragte kühl: «Was soll ich tun?» Harris sagte unsicher: «Ein Kunde hat sich über das Lagerhaus in der Bermondsey Street beklagt.» Harris war so verunsichert, dass er stotterte, was ihm sonst nie passierte. «Verstanden!», antwortete das Gegenüber am Telefon und legte den Hörer auf. Harris begab sich zurück in die Hotelhalle zu den Gästen. Wieder rief ein Gast: «James!» Harris hatte sich langsam daran gewöhnt.

Die darauf folgenden Tage verliefen ereignislos. Harris befriedigte die Wünsche der Kunden und malte sich schon sein Hotel in Singapur aus, bis am Freitagmorgen ein lauter Knall alle Hotelgäste zusammenzucken und erstarren liess. Harris rannte hinaus und sah das grosse graue Lagerhaus in sich zusammenfallen. Es musste gesprengt worden sein. In den Abendnachrichten jedoch wurde berichtet, dass es sich vermutlich um einen Terrorangriff handelte, aber glücklicherweise alle Arbeiter an diesem Freitag gestreikt hatten, und es keine Verletzten oder Toten gab. Harris war zutiefst schockiert über seine Tat, und gleichzeitig unendlich erleichtert, dass sie keine Menschenleben gefordert hatte. Was hatte er sich nur gedacht? Harris gestand Francine seine Tat. Er musste es jemandem erzählen, bevor er weitermachen konnte. «Ist jemand gestorben? Nein? Also warum die Aufregung?», fragte Francine kühl. In dem Moment kam er sich vor, als wäre er der einzige Mensch mit einem Gewissen auf diesem Planeten. Die folgende lange Diskussion beendete seine Freundin mit dem Satz: «Halte durch und denk an Singapur, dort kannst du nach deinem Ermessen handeln.» Er vergass die erschreckenden Umstände seiner Arbeit für eine Weile, und das war gut so.

Doch am Montagmorgen, als er von einem Gast mit «James» angesprochen wurde, war er wieder in dieser Welt ohne Moralvorstellung. Nach einem Monat ohne weitere ‹Spezialwünsche› rief ihn Mister Griffiths in sein Büro. Harris war sehr nervös, denn beim letzten Treffen mit Mister Griffiths hatte er eine Achterbahn der Gefühle durchlaufen. Harris klopfte an die grosse Eichentür, und schon erklang ein freundliches «Herein». Harris trat ein und setzte sich zu Mister Griffiths in den gemütlichen Sessel neben den Kamin. Auf die Frage, wie es ihm so gefalle im Paradise, log Harris: «Ausgezeichnet, ich fühle mich wie ein Teil dieser Familie.» «Wunderbar», freute sich Mister Griffiths. «Wir haben ja schon einmal über die Stelle in Singapur gesprochen», fuhr er fort, «du hast sehr gute Arbeit geleistet, und ich spiele deshalb mit dem Gedanken, dich nächste Woche zum Chef des neuen Hotel Paradise in Singapur zu befördern.» Harris hörte aufmerksam zu. «Es gibt nur noch eine Sache, die du hier erledigen musst.» Harris wurde neugierig. «Einer unserer Gäste hat einen speziellen Container von Russland herschicken lassen, und ich möchte, dass du ihn am Hafen abholst. Du darfst keine Fragen zum Inhalt des Containers stellen, denn der ist streng geheim.» Harris war die Sache nicht ganz geheuer, doch aus Routine antwortete er: «Kein Problem, Sir.» Mister Griffiths gab ihm die exakten Daten, wo und wann er den ominösen Container empfangen sollte. Harris machte sich also auf den Weg zum Hafen.

Am Treffpunkt angelangt, sprach eine schwarz gekleidete Person leise: «James?» Die Person zeigte mit dem Finger auf einen Lastwagen mit dem Container darauf, verabschiedete sich sogleich und verschwand in der Dunkelheit. Harris ging mit klopfendem Herzen auf den Container zu, als er plötzlich ein Weinen vernahm. Vorsichtig klopfte er an die Tür und hörte, dass sich darin etwas bewegte. Er erschrak und fragte: «Ist da jemand?» Er hörte ängstliche Stimmen, die in einer fremden Sprache tuschelten. Harris war sich sicher, dass es Mädchenstimmen waren. Er nahm den Schlüssel, den er von der Kontakt person erhalten hatte, aus seiner Tasche, und öffnete den Container. Sein Verdacht bestätigte sich. Es waren zwei Mädchen darin, die kaum älter waren als fünfzehn. Sie sahen Harris mit flehenden Augen an. Er hatte in der vergangenen Zeit viel getan, auf das er nicht gerade stolz war, aber das ging entschieden zu weit. Augenblicklich hörte das Rumoren in seiner Magengegend auf. Er entschied sich für sein Gewissen und gegen das Hotel in Singapur. Er befreite die Mädchen aus dem Container und brachte sie in Sicherheit. Noch auf dem Weg klingelte sein Telefon. Niemand anders als Mister Griffiths fragte, was mit dem Container passiert sei. Harris überlegte kurz und log, dass die Tür während der Fahrt aufgesprungen, und der Inhalt verloren gegangen sei. Mister Griffiths orderte ihn sofort in sein Büro. Dort angekommen, fing Mister Griffiths an zu brüllen: «Harris, was soll diese verdammte Scheisse! Du hattest einen klaren Auftrag, aber warst einfach unfähig, ihn auszuführen. Ich habe mich wohl in dir getäuscht. Du bist gefeuert!» Mit einem Lächeln antwortete Harris: «Kein Problem, Sir», und lief davon.

*Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Verlags sowie des Autors.
Der Text ist der folgenden Publikation entnommen: Die Basler Eule (Hrsg.): Sprach: kein Problem – und lief davon. Geschichten von Jugendlichen, Christoph Merian Verlag, Basel 2009, 134 Seiten; 
11 x 18 cm, broschiert, deutsch, SFr. 16.80 / Euro 10.00, ISBN 978-3-85616-405-8; www.merianverlag.ch; www.baslereule.ch;