Zwei Schritte neben der Rhone, am Saum zwischen Wiese und Wald, wird die Strasse zum Weg, der Weg zum Schotterpfad. Plötzlich eine Explosion von Farben, rot, gelb, blau. Im Halbschatten stehen ausgediente, leuchtend bunt gestrichene Eisenbahnwagen, Hütten, Sonnenschirme und ein Rundzelt. "Willkommen im Ferienclub der Obdachlosen!", sagt Guillaume.
Guillaume ist Sozialarbeiter beim Verein Carrefour-Rue, der sich um Obdachlose kümmert. Seine Anwesenheit im "Hameau des Chemineaux", dem Ferienlager des Vereins, dient eher zur Beruhigung der Sozialdienste als zur Betreuung der anwesenden Gäste. "Hameau des Chemineaux" heisst "Weiler der Landstreicher", und die "Sans domicile fixe", die "Domizillosen", wie sie auf Französisch genannt werden, haben die Sache im Griff. Selbstverwaltung ist das Zauberwort: Es lockt blühende Büsche, rankende Blumen, würzige Kräuter aus dem Boden; es lässt einen verführerischen Duft aus der Küche dringen, wo der Koch gerade mit Töpfen hantiert. Es bringt die Gesichter der Obdachlosen zum Leuchten, wenn sie erklären, wie die mongolische Jurte entstanden ist, in der ein Billardtisch steht, woher die Veuve-Cliquot-Champagnerkübel stammen, die zu Blumentöpfen umfunktioniert worden sind, wie Solarzellen den nötigen Strom fürs Warmwasser liefern. Die Schlafstellen in den Waggons sind mehr als bescheiden: Feldbetten, Schlafsäcke, Hängematten. Denn mehr als ein paar Tage soll hier niemand verbringen. Damit der Ferienort nicht plötzlich zum Zuhause der Unbehausten wird.
Fern von den Kämpfen des Alltags
"Jeder Mensch hat ein Recht auf Ferien", sagt Noël Constant. Er ist 72 und Gründer des Vereins. Neben Notschlafstätten und Wohngemeinschaften in der Stadt stellt die karitative Organisation auch diese von den Eingeweihten liebevoll-ironisch "Club Med der Obdachlosen" genannte Ferienecke zur Verfügung. Das ist in den Sommermonaten auch wichtig, weil in der Stadt dann mit den Temperaturen die Spannungen steigen. "Früher hatten wir Unterkünfte im Wallis", erinnert sich Constant. doch in den letzten Jahren wollen die Obdachlosen Genf nicht mehr verlassen, "aus Angst, vergessen zu werden, oder ihren immer stärker umkämpften Platz zu verlieren". Der "Hameau" liege nun nahe der Stadt, sei aber abgelegen genug, um dort eine Auszeit im Grünen zu verbringen. – Fern von den Sorgen des Alltags, dem nächsten Gang aufs Sozialamt, der nächsten Niederlage im Kampf um eine Arbeit oder eine Wohnung.
Noël Constant ist in Genf eine Institution, dabei geht im nichts mehr wider den Strich als Institutionen. "Auch ich komme von der Strasse", erzählt der 1939 geborene Franzose. Im Zweiten Weltkrieg verlor er seinen Vater, als ältester Sohn trieb er sich mit seinen Geschwistern in der Stadt herum, verschiedene Institutionen versuchten sie zu retten, doch Noël Constant wollte sich nicht retten lassen. Er lernte Autospengler, suchte Diamanten in Côte d’Ivoire, betrieb dort eine Buschschule, verdiente sich die Rückreise nach Frankreich in der Schiffskantine, verpasste so das Aufgebot der französischen Armee für den Militäreinsatz im Algerienkrieg, wurde in Marseille als Deserteur verhaftet und als Funker in eine Fallschirmtruppe gesteckt.
Stark beeindruckt hat ihn die Begegnung mit einem Bruder der christlich-ökumenischen Taizé-Gemeinschaft, der in Marseille Gefängnisgeistlicher war. Doch sein Engagement sei nicht christlich, sondern humanitär. So richtig begonnen hat dieses Engagement vor vierzig Jahren, als er sich in Genf zum Sozialarbeiter ausbildete. Vor 25 Jahren entstand "La Coulou", die Notschlafstelle. "Wir haben pro Woche sechzig Anfragen für eine Notunterkunft, die meisten müssen wir aus Mangel an Platz abschlägig beantworten", sagt Constant.
Wiedereingliederung? Wohin?
Die Wohnungsnot in Genf ist enorm, die Mieten sind unbezahlbar, die Unterkünfte rar. Obdachlosigkeit ist in Genf nicht auf Randständige beschränkt: Jedes Jahr werden rund dreihundert MieterInnen aus ihrer Wohnung vertreiben, weil sie den Mietzins nicht bezahlen können.
Carrefour-Rue ist keine Konkurrenz zu den öffentlichen Institutionen, sondern eine Ergänzung: "Auf einem öffentlichen Amt sitzt halbjährlich jemand anderes hinter dem Schalter, bei und ist der Kontakt persönlicher, direkter und dauerhafter", sagt Constant. Und ausserdem gibt es bei Carrefour-Rue keinen Papierkram. "Wir verlangen nicht einmal den vollen Namen, wenn jemand anonym bleiben will." Zu Noël Constant kommen auch Menschen aus der sogenannt besseren Gesellschaft, wenn sie alles verloren haben, in der Hoffnung, hier mehr Diskretion als beim Sozialamt zu finden. Auch die Philosophie von Carrefour-Rue ist anders: "Wir üben keinen Druck zur Wiedereingliederung aus", sagt er. Wiedereingliederung sei ein entsetzliches Wort, ähnlich wie Institution. "Es geht nicht darum, wieder in das falsche Alte zurückzugehen. Jeder Mensch muss seinen eigenen Rhythmus und seinen eigenen Weg finden.
Unterdessen ist der Tisch unter den knorrigen Eichen gedeckt. Der Koch ruft zum Essen, es gibt Kartoffelsalat und gegrilltes Fleisch an Pfeffersauce. Gesprächsthema ist die Wohnungsnot in Genf. Dass sich Mietzinse auf dem freien Markt in wenigen Jahren verdoppeln oder verdreifachen können. Dass Superreiche eine Villa mit -Seeanstoss zum Preis von 74 Millionen Franken erstanden haben. Er habe eben bei seiner Bank um einen Kredit von 120 Millionen angefragt, sagt ein Gast. Sein Lachen ist ohne Bitterkeit. Dann wendet sich das Gespräch voll Vorfreude der kommenden Jasspartie zu.
Der Ferienclub der Obdachlosen steht auf sumpfigem Boden. Hier war in historischen Zeiten das Pulverlager der Stadt Genf, gut versteckt im Grün der mäandernden Rhone. Zwei Jahre lang habe es gebraucht, bis man ihm das Gelände überlassen habe, aus dem die Obdachlosen eine "kleine Ecke Paradies" gemacht hätten, sagt Constant. Als die SBB die ausgedienten Waggons lieferte, wollten sie Geleisestumpen installieren. Doch er habe die Wagen direkt auf die weiche Erde stellen lassen. "Die Räder sollen ruhig einsinken, dann kann man uns nicht mehr so schnell vertreiben", sagt er verschmitzt.


Genfer Wohnungsnot: Hauptgrund für sozialen Abstieg
Mehr als 5’000 Gesuche für eine Sozialwohnung sind bei den zuständigen Stellen des Kantons Genf hängig. Auf der entsprechenden Warteliste der Stadt Genf stehen 3’500 Menschen. In guten Jahren kann vielleicht ein Zehntel von ihnen damit rechnen, eine Wohnung zu erhalten. Die Stadt verfügt über 5’200 Sozialwohnungen. Geschiedene mit Kindern und MieterInnen, die zwangsgeräumt wurden, haben bei der Vergabe dieser Wohnungen Vorrang – doch auch hier gibt es eine Warteliste von mehreren Hundert Personen.
Die Wohnungsnot in Genf ist akut; laut der MieterInnenorganisation Asloca ist sie das Resultat neuer Besitzverhältnisse. Nicht mehr institutionelle, langfristig orientierte InvestorInnen bestimmen die Marktpreise, sondern spekulativ orientierte Immobiliengesellschaften mit kurzfristigen Renditezielen von dreizehn bis achtzehn Prozent. Für Tausende von GenferInnen werde so die Wohnungssuche "zu einem grotesken und erschöpfenden Leidensweg", schreibt die Zeitung "Le Temps". Gewisse VermieterInnen verlangen Fantasiepreise: auf Intervention der Asloca musste beispielweise der Mietzins einer Wohnung von 6’000 auf 1’500 Franken gesenkt werden. Andere BesitzerInnen profitieren von der Wohnungsnot, indem sie befristete Mietverträge abschließen und die Preise bei jedem Wechsel erhöhen. Das hat auch zur Folge, dass es kaum mehr Mietzinsanfechtungen gibt.
Ausgesteuerte, Verarmte und Randständige sind von dieser Situation besonders betroffen. Die Notunterkunft von Carrefour-Rue bietet bis zu zwanzig Unterkünfte, davon sind im Durchschnitt siebzehn besetzt. Auch sieben Häuser und Wohnungen für Wohngemeinschaften sowie fünfzehn Einzimmerwohnungen gehören zum Angebot der Organisation.
Der Mangel an bescheidenen Wohnungen zu erschwinglichen Preisen ist einer der Hauptgründe für sozialen Abstieg und Verelendung im Kanton Genf, sagt der Mieterverband. Und dieser Mangel ist mit ein Grund dafür, dass obdachlose und marginalisierte Menschen auch beruflich nur schwer wieder Fuss fassen können.
Carrefour-Rue fordert, dass in Zukunft bei jedem Neubau obligatorisch eine Anzahl von Notwohnungen mitgebaut wird. "Das Recht auf Wohnen ist ein Grundrecht und die Grundlage für das Recht auf Menschenwürde", schreibt Noël Constant im Jahresbericht 2010 von Carrefour-Rue. "Dass es heute infrage gestellt wird und man sogar davon spricht, es aus dem Entwurf für eine neue Kantonsverfassung zu streichen, zeigt, wie gefährdet unsere Errungenschaften in Sachen Menschenrechte sind."
Dieser Beitrag wurde der Wochenzeitung WOZ Nr. 24 vom 16. Juni 2011 entnommen. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.