So wie am Anfang einer Wellenbewegung ein einziger Tropfen steht, so brachte im Jahr 2006 eine einzige Frau in Uttar Pradesh, Indiens grösstem nördlichen Bundesstaat, ein Aufbegehren von Frauen ins Rollen, indem sie auf ungewöhnliche Manier Männer bestrafte und Frauen zu Gerechtigkeit verhalf. Die 47 Jahre alte Sampat Pal ertrug die zunehmenden Gräueltaten gegenüber Frauen in ihrer Region nicht mehr. Sie ergriff einen Stock, rief ein paar Frauen aus ihrem Dorf zu ihrer Unterstützung herbei und verprügelte einen Polizisten. Ähnliches wiederholte sie noch mehrmals und verprügelte Ehemänner, die sich ihren Ehefrauen gegenüber gewalttätig verhielten.

Santoshi Devis Ehemann starb im Februar dieses Jahres in einem Dorf in der Karvi-Region von Uttar Pradesh an Tuberkulose, und seitdem wurde die Frau vom Bruder ihres Ehemannes regelmässig vergewaltigt. Das Grundstück, das ihr Ehemann besessen hatte, wurde ihr verweigert. Vergeblich versuchte sie, die Polizei zu einem Eingreifen zu bewegen. Mit Knüppeln bewaffnet fielen Sampats Frauen schliesslich in das Haus des Schuldigen ein, ergriffen ihn und übergaben ihn der Polizei.

Glitzernde Hochhäuser und protzige Autos dominieren das Bild in den Städten des indischen Staates Uttar Pradesh, der insgesamt jedoch mehr für seine sozialen Konflikte und wirtschaftliche Rückständigkeit bekannt ist. Sobald man sich in die ländlichen Gegenden bewegt, sieht man zu beiden Seiten der Strasse Reihen von Lehmhütten in trockenem Hochland. In ihnen leben die armen Familien, die die unterste Stufe der Gesellschaft einnehmen. Frauen in der Region Bundelkhand sind die grössten Opfer der sozialen Ungleichheit. In der in Bundelkhand herrschenden patriarchalischen Sozialordnung ist Sampat Pal, Mutter von vier Kidnern, zum Mittelpunkt weiblichen Protests in diesem ländlichen Teil Indiens geworden.

Der Demokratisierungsprozess in Indien begann in den 1950er-Jahren, Frauen in urbanen Gegenden beteiligen sich seit den 1970er-Jahren aktiv daran, in dem sie die öffentliche Aufmerksamkeit auf frauenspezifische Themen lenken. Obwohl das Land heute anstrebt, zum wirtschaftlichen Machtzentrum der Welt zu werden, und sein Wirtschaftswachstum bei 8,5 Prozent hält, bleiben die ländlichen Gegenden in sozialer Rückentwicklung versunken. „Die Ausweitung der Rechte der Frauen ist das Grundprinzip für jeglichen sozialen Fortschritt“, bemerkte der französische Sozialphilosoph Charles Fourier. Aber das ländliche Indien – insbesondere der nördliche Teil des Landes – schwankt noch immer unter dem Einfluss der sozialen Ungleichheit von Mann und Frau. In Sampats Dorf Attaraim Bezirk Banda sind stets die Frauen die Opfer gewesen. Der Bezirk kannte in der Vergangenheit abscheuliche soziale Gebräuche wie etwa „Sati“, bei dem sich Frauen am Scheiterhaufen ihres Mannes ofpern, Kinderheirat oder „Parda“ – die Verschleierung muslimischer Frauen. Durch das „Parda“-System wurde eine Mauer zwischen muslimischen Frauen und der restlichen Gesellschaft gezogen. Dies zeigt sich etwa darin, dass die Mehrzahl der ländlichen Muslima die Schule abbrechen und nur sehr wenige von ihnen eine höhere Bildung erlangen. Diese Gebräuche drängen Frauen an den Rand der Gesellschaft. Im Bezirk Banda sind die sozialen Verhältnisse für Frauen mit am schlimmsten in ganz Indien. Nur 23,9 Prozent der Frauen können lesen und schreiben. Der weibliche Anteil der Bevölkerung ist niedrig – 845 Menschen weiblichen Geschlechtes gegenüber 1’000 männlichen. Die Zahl der abgetriebenen Föten weiblichen Geschlechtes steigt weiter an. Männer sind gezwungen, ihre Frauen zurückzulassen und sich in wohlhabenderen Städten wie Mumbai, Ahmedabad oder Pune als Tagelöhner zu verdingen.

Hilflosigkeit und Scham wiederkehrender Gräueltaten gegen Frauen, wie Vergewaltigung, Belästigungen und das Verlassenwerden verheirateter Frauen durch ihre Ehemänner- auf dem Lande bedeutet eine Trennung für eine Frau, dass sie auf der Strasse landet und letztendlich oft als Prostituierte arbeiten muss – , haben unter den ländlichen Frauen Wut aufkommen lassen. Diese ergiesst sich nun unter der Führung von Sampat Pal trotzig in die Strassen. Gekleidet in bonbonfarbene Saris, marschieren sie oft mit einem Stock in der Hand durch die Strassen. Die Frauen tragen die pinken Saris als Behelfsuniform. Pink ist die Farbe von „Gulab“ – einer klassischen indischen Süssspeise. „Das Wesen der Frau ist wie ein Gulab-Bällchen, weich und duftend. Die Frauen sind hier, um dieses Gulab zu schützen. Sie kämpfen für das Pink“, sagt Sampat Pal. „Und man darf uns keinesfalls mit Banditen verwechseln, wir sind eine ‚Gang’ von Arbeiterfrauen, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzt.“ Sie bewaffnen sich mit „lathi“, traditionellen Stöcken, mit denen sie Männer verprügeln – Männer, die ihre Frauen verlassen oder missbraucht haben, sowie Polizisten, die sich weigerten, Anklagen wegen Vergewaltigung aufzunehmen.

An einem regnerischen Julimorgen im Jahr 2007 fand Sampat Pal auf ihrer Türschwelle eine 24 Jahre alte Frau, Rama Bai, die nicht aufhören wollte zu weinen, während Blut an ihrem Sari herabtroff. Rama Bai, Mutter von drei Töchtern, war zum vierten Mal schwanger, als ihr Ehemann durch einen Test zur Geschlechtsbestimmung entdeckte, dass sie wieder ein Mädchen zur Welt bringen würde. Gegen ihren Willen wurde sie zu einem Quacksalber gebracht, der den Fötus unfachmännisch abtrieb. Als sie protestierte, wurde sie aus dem Haus ihrer Schwiegereltern geworfen.

Eine halbe Stunde später standen rund 50 Frauen in pinken Saris vor dem Haus der Schwiegereltern von Rama Bai im Dorf Tendulin, nur etwa drei Kilometer von Sampats Büro entfernt. Die Frauen zerrten Shiv Prasad, Ramas Ehemann, aus einem Viehstall, in dem er sich versteckt hatte, und liessen Schläge auf ihn herabregnen, bis er anfing zu bluten und um sein Leben zu beten. Sie liessen ihn gehen, nachdem er sich dazu bereit erklärt hatte, die Füsse seiner Frau zu berühren, und um Verzeihung bat.

Die „Gulabi-Gang“ beruft sich heute in den Distrikten Banda, Mahoba und Chitrakoot von Bundelkhand auf jeweils etwa 200 Mitglieder, und diese Frauen treten auf Beschwerden von anderen Frauen hin in Aktion. Die beherzte Anführerin Sampat Pal, die der Gararia-Kaste (einer Viehtreiber-Kaste, die im indischen Vier-Kasten-System am untersten Ende der sozialen Hierarchie rangiert) entstammt und die Schule nur bis zur 8. Klasse besuchte, versprüht mit erlesensten Ausdrücken ihr Gift gegen grausame Männer in der Verwaltung, sobald sie Ungerechtigkeit ausmacht.

„Im Namen von Bundelkhand kannst du nicht um deine Rechte betteln, du musst sie dir nehmen“, erklärt sie den Frauen und fügt hinzu: „Du erfährst Leid, und während dir Schmerzen zugefügt werden, wirst du stumm. Aber wach jetzt auf, Sampat ist da.“ Während all dieser Aktivitäten hat Sampat Schlimmstes erlebt. „Wir sind nicht gewalttätig und setzen unsere Stöcke erst dann ein, wenn unsere Selbstachtung mit Füssen getreten wird. Dann bekommen die Gesetzeshüter eine Kostprobe von der Wut der Frauen“, sagt sie. Sampat gibt an, bislang mindestens zwölf Frauen davor bewahrt zu haben, ihrem Leben durch einen Sprung auf die Eisenbahnschienen ein Ende zu setzen. Alle diese Frauen waren Opfer von Gewalt durch ihre Schweigereltern und Ehemänner. Sie bestrafte auch 22 betrunkene Ehemänner, die gegen ihre Ehefrauen tätlich geworden wären. Die Bürgerwehr der Frauen bekämpft zudem Korruption. Im Juni dieses Jahres überwachten sie ein Dutzend Fair-Price-Läden, die das Gemüse auf dem Schwarzmarkt verscherbelten, anstatt es zu subventionierten Preisen an die Armen zu verkaufen.

Sozialarbeiter in Indien wie etwa Professor Roop Rekha Verma, ehemaliger Vizekanzler der Universität in Lakhnau, sind der Ansicht, dass ländliche Frauen wie Sampat im Grunde dazu beitragen, dass Frauen mehr Macht erlangen. „Ohne Frauen wie Sampat Pal sähe die Geschichte ländlicher Frauen in Indien wesentlich anders aus.“ Eine Reihe von Politikern in Uttar Pradesh teilt diese Ansicht jedoch keinesfalls. Baburam Kushawa, ein Vorsitzender der Bahujan-Samaj-Partei, erklärt: „Sampat verursacht unnötigen sozialen Tumult. Sie ist eine Anarchistin und nimmt das Gesetz in ihre eigene Hände.“ Das Gesetz spricht sich klar gegen Selbstjustiz aus. Tatsächlich verlangte die Ministerpräsidentin des Staates Uttar Pradesh, Mayawati Kumari, vom Generaldirktor der Polizei, Vikram Singh, die „Gulabi-Gang“ unter Polizeiaufsicht zu stellen. Am Abend des 30. April dieses Jahres fielen Geheimdienstoffiziere in Sampats Haus ein und nahmen sie in die Mangel. Sampat lässt sich von Überfällen nicht abschrecken. Sie verkündete: „Verlangt von der Regierung, soziale Ungleichheiten zu stoppen. Ich werde dann aufhören, wenn diese nicht mehr existieren.“ Die Demokratie habe Hoffnungen für die Armen geschaffen, und nun sei es an der Zeit, diese Hoffnungen Wirklichkeit werden zu lassen. Die Geisteshaltung auf dem Land sei noch immer gegen Frauen. So werden etwa Frauen aus einer niedrigeren sozialen Kaste noch immer von Menschen höherer Kasten geschlagen, wenn sie Wasser aus den von ihnen genutzten Brunnen holen.
V.S. Naipaul, der berühmte indischstämmige Schriftsteller, sagt, dass Indien heute millionenfache Meutereien erlebe. Jene, die Sampat entfachte, ist eine von vielen solchen Meutereien.
Der Beitrag erschien in «Kulturaustausch. Zeitschrift für internationale Perspektiven» Nr. III/08. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung von Redaktion und Autor*; Bilder: Shagun Rastogi, aus ihrem Video «Gulabi-Gang (The pink women of India), Mai 2008

*Tapas Kumar Chakraborty, geboren 1962, ist Journalist. Nach dem Studium der englischen Literatur und einem Diplom in Journalismus schreibt er seit 1988 für The Telegraph, die grösste Zeitung Ostindiens. Er lebt in Lakhnau, der Hauptstadt des Bundesstaats Uttar Pradesh.