Sonntag, 5. März 2009, 7 Uhr morgens, Nelson Mandela Bay, Südafrika. Hunderte von Athletinnen und Athleten in schwarzen Neoprenanzügen stürzen sich in den Ozean mit dem Ziel, den Ironman South Africa zu gewinnen. Das heisst 3.8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und 42.2 Kilometer zu Fuss. Ich bin nicht nach Port Elisabeth gekommen, um diesem eindrücklichen Wettkampf beizuwohnen, sondern um neue Organisationen, die für eine Projektpartnerschaft mit terre des hommes schweiz in Frage kommen, zu besuchen. An meinem freien Tag mache ich einen Spaziergang am Meer und lande in diesem Grossanlass. Mit Spannung verfolge ich den ersten Wechsel vom Wasser aufs Rennrad. Die Schuhe bereits auf den Pedalen fixiert, rennen die durchtrainierten Topathleten und –athletinnen barfuss über den Asphalt zum Start der Radrunde. Die SportlerInnen strampeln Runde um Runde. Diese sportlichen Höchstleistungen beeindrucken mich sehr. Ich bin fasziniert von der tadellosen Organisation des Events und dem makellosen Bild von Port Elisabeth, das den vielen Zuschauenden vermittelt wird: Keine Abfallberge säumen die Strassen. Baseballmützen, Wasserflaschen und andere Werbeprodukte werden massenhaft an die Zuschauer abgegeben. Die Strandpromenade, die tags zuvor fast menschenleer war, wird zur Flaniermeile. Polizisten patrouillieren in Zivil, um die Besucherinnen und Besucher nicht zu stören. Armut, Gewalt, Kriminalität scheinen meilenweit entfernt.

Die Realität der Townships
Dieses Bild, auf das sich auch die Kameras an der Fussball-WM im nächsten Jahr stürzen werden, trügt. Es steht im krassen Gegensatz zur harten Realität der Townships, wo die Mehrheit der Südafrikanerinnen und Südafrikaner weiterhin leben und oft für ihr Leben und das ihrer Kinder kämpfen müssen. Am Vortag habe ich die Organisation Rape Crisis Center im Township Motherwell besucht. Die NGO kümmert sich um Opfer sexueller und häuslicher Gewalt. Im Spital betreuen Psychologinnen von Rape Crisis die Opfer – oft junge Frauen. Rape Crisis berät und begleitet die jungen Frauen bei den medizinischen Untersuchungen. Sie bieten Therapiesitzungen sowie juristische Beratung an. Im Falle einer Anklage unterstützen sie die Frauen vor Gericht. Berenice Jacobs-Malgas, die Direktorin von Rape Crisis, berichtet, dass im Durchschnitt zehn Mädchen und junge Frauen pro Tag eingeliefert werden: "An Wochenenden und an den Tagen, an denen so genannte social grants, die minimalen Sozialleistungen vom Staat, ausbezahlt werden, steigen die Zahlen sprunghaft an." Laut Statistik hat die sexuelle und häusliche Gewalt in den letzten Jahren in Port Elisabeth zugenommen. Die Zahlen umfassen aber nur die Fälle, in denen die Opfer Anzeige erstattet haben. Aufgrund der Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit wenden sich immer mehr junge Frauen an Rape Crisis. Eine Umkehr dieser traurigen Tendenz ist ausser Sichtweite, sagt Berenice Jacobs-Malgas. Sie glaubt, dass weiterhin nur ein Bruchteil der Mädchen, die Opfer von Gewaltverbrechen werden, Anzeige erstattet.

Alternativen schaffen
Armut, Langeweile, fehlende Perspektiven und Gruppendruck sind Faktoren, die Mädchen dazu bewegen, sich in "shebeens" (unlizenzierte Bars in den Townships) auf Angebote von Männern einzulassen. Als Bezahlung für Drinks verlangen Männer oft sexuelle Handlungen. Die Mädchen geben Versprechen ab, in der Hoffnung, nach ein paar Drinks zu fliehen.
Diese erschütternde Tatsache ist auch unserer Partnerorganisation Anex-CDW in Kapstadt bekannt. Ihr Präventionsprogramm zielt darauf ab, Jugendliche aus der ländlichen Region im Central Karoo zu befähigen, alternative Lebensperspektiven zu entwickeln. In Jugendcamps bildet Anex-CDW Jugendliche zu Gruppenleitern aus, die in ihren Dörfern anschliessend Jugendgruppen aufbauen. In Murraysburg treffe ich eine solche Gruppe. Die 40 Jugendlichen treffen sich wöchentlich, studieren gemeinsam kurze Theaterstücke ein, tanzen, singen und stellen kleine Produkte zum Verkauf her. Diese Aktivitäten schweissen zusammen. Ein Jugendlicher berichtet, wie er Vertrauen gefasst hat und nun in der Gruppe über seine Probleme sprechen kann. Er sei selbstbewusster geworden, motivierter, die Schule zu besuchen und gute Noten zu erzielen. Mally, die Gruppenleiterin, erzählt schmunzelnd, dass sie durch die Leitung der Gruppe zu beschäftigt sei, um überhaupt an Trinkparties zu denken. Es sei ihr wichtig, ein Vorbild für die anderen Jugendlichen im Dorf zu sein.
Südafrika besitzt neben hervorragenden Sportlerinnen und Sportlern ein Heer weiterer Ironman und Ironwomen, die Höchstleistungen im Alltag erbringen, fernab von Blitzlichtern und Fernsehkameras.

Der Beitrag von Gabriela Wichser erschien in der Zeitung von terre des hommes schweiz, www.terredeshommes.ch, Nummer 2, Juni 2009. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.