«In der einen Hand hielt ich den Koffer, an der anderen die Kinder»
Die 77-jährige Alice Mvenge ist weit über ihre Nachbarschaft hinaus bekannt. Schon ihre Eltern standen für soziale Gerechtigkeit ein. Mitte der 50er Jahre führte sie mit anderen Frauen die erste grosse Protestbewegung gegen die Einführung von Pässen für Frauen durch das Apartheidregime an. Heute ist sie Mitglied der Khulumani Support Group, der Selbsthilfeorganisation von Apartheidopfern. Alice Mvenge wohnt in einem Township am Rande von Kapstadt in einem Zweizimmer-Haus, welches die post-Apartheid Regierung im Rahmen des Wiederaufbau- und Entwicklungsprogrammes landesweit aufstellte. Der Unmut gegen diese für grosse Familien zu kleinen, schnell baufälligen und oft unfertigen Gebäude wird immer lauter. "Während des Befreiungskampfes kämpften wir gegen Zündholzschachtel-Häuser, heute wohnen wir immer noch in solchen Zündholzschachteln!", brachte es ein anderes Mitglied von Khulumani auf den Punkt.
Die Opferorganisation Khulumani Support Group
Die Mitglieder von Khulumani sind direkt oder indirekt Opfer von politischer Gewalt während der Apartheid. Die Organisation will die von der Wahrheits- und Versöhnungskommission (Truth and Reconciliation Commission, TRC) aufgeworfenen Themen am Leben erhalten. Die TRC sollte Mitte der 90er Jahre den friedlichen Übergang zum demokratischen Südafrika sicherstellen. Sie hatte ein Mandat des Parlamentes zur Aufdeckung der schweren Menschenrechtsverletzungen, die unter dem Apartheidregime begangen worden waren. In diesem Zusammenhang organisierte sie Zeugenaussagen von Tätern und Opfern. Dabei wurde den Tätern im Austausch gegen eine wahrheitsgetreue und vollumfängliche Aussage Amnestie angeboten, den Opfern Reparationszahlungen. Als quasi öffentlich-rechtliche Institution erntete die TRC Kritik für ihren ausschliesslichen Fokus auf schwere Menschenrechtsverletzungen und generell für die Priorisierung der Täter gegenüber den Opfern.
Anfänglich unterstützten lose Netzwerke von Selbsthilfegruppen die oft traumatisierten Opfer, indem sie über die Anhörungen der TRC informierten und psychologische Hilfeleistung anboten. Daraus entstand 1995 die Khulumani Support Group mit einem zentralen Büro in Johannesburg. Dabei nimmt die Organisation in einem stark parteipolitisch geprägten Umfeld eine strikt neutrale Position ein. So wurde Khulumani zur Stimme der Opfer, zunehmend auch jener, die vom national orchestrierten Prozess der TRC ausgeschlossen waren. Ihre Mitglieder und deren Geschichte sind in einer Datenbank erfasst, der umfassendsten bezüglich Menschenrechtsverletzungen unter dem Apartheidregime.
In der Lobbyarbeit der Organisation sind die Themen Wiedergutmachung und Reparationszahlungen zentral geworden. Dabei geht es vor allem um jene, welche nach den engen, eher legalistischen Definitionskriterien der TRC nicht als Opfer politischer Gewalt anerkannt wurden und somit keine staatliche Entschädigung erhielten. Ausserdem kritisierte Khulumani die Regierung, welche die Entschädigungen mit fünfjähriger Verspätung auszahlte und erst noch viel weniger, als die Kommission empfohlen hatte. Zusammen mit anderen Lobbygruppen wehrt sich Khulumani gegen die von der Regierung angestrebte Amnestierung von Tätern, die unter dem Apartheidregime schwere Menschenrechtsverletzungen begingen.
In den letzten zehn Jahren hat sich Khulumani als kritische Stimme positioniert, die an das immer noch unerledigte Geschäft der Apartheid erinnert. Mit öffentlichen Märschen, mit Memoranden sowie durch unermüdliche Verhandlungen mit den Behörden vertritt Khulumani die Interessen seiner Mitglieder und hat damit die Anerkennung von Gesellschaft und Regierung gewonnen.
International ist Khulumani dafür bekannt, dass die Organisation 2002 in den USA transnationale Korporationen und Banken wegen Beihilfe zu schweren Menschenrechtsverletzungen während der Apartheidzeit auf Reparationszahlungen verklagte. Als die Regierung Mbeki sich im März 2003 öffentlich von den Klagen distanzierte und dafür nationale Interessen anführte, hatte Khulumani einen schweren Stand. Mbeki beschuldigte Khulumani damals indirekt, den Interessen Südafrikas aus selbstsüchtigen Motiven heraus zu schaden und unpatriotisch zu handeln.
Zwischen Stadt und Land, heute und gestern
Oft sind es die Frauen, welche in einem Haushalt und in den Communities die Rolle übernehmen, sich um den familiären und kommunalen Zusammenhalt zu kümmern. Frau Ncoma antwortet auf die Frage, weshalb denn die Frauen die Anliegen von Khulumani in den Communities tendenziell stärker vertreten und verbreiten, sehr nüchtern: weil die meisten Männer erschossen wurden oder sonst im Befreiungskampf gestorben seien. Sie verkauft Chips, Süssigkeiten und gekochte Hühnerfüsse in einer kleinen Blechbude an der Hauptstrasse eines Townships am Rande von Kapstadt. Manchmal lässt sie ihre Tochter Zkolweni dort arbeiten, die sie jedoch nie alleine lassen kann. Diese leidet seit dem Brand 1986 in der Crossroads Siedlung unter starken epileptischen Anfällen und konnte deshalb die Schule nicht abschliessen. Manchmal, wenn das Geschäft schlecht läuft oder wenn es regnet und der Stand deswegen geschlossen werden muss, essen sie die Waren selber, die sie eigentlich verkaufen wollen.
Viele Kinder wuchsen in den ländlichen Regionen bei den Grosseltern auf, als ihre Eltern in den 70er und 80er Jahren in die Städte zogen – entweder um Arbeit zu suchen oder um am Befreiungskampf teilzunehmen. Oftmals war letzteres nicht geplant. Die Kinder wiederum, welche mit den Eltern in den Städten aufwuchsen, zeigen oft bis heute Zeichen von Traumatisierung und haben gesundheitliche Probleme; zum Beispiel als Folge des Tränengases, das in den frühen 80er Jahren bei den Räumungsversuchen der Siedlung Crossroads eingesetzt wurde, oder als Folge von Rauchvergiftungen, als die Siedlung 1986 schliesslich zerstört wurde. Alice Mvenge hatte damals fünf Kinder und sorgte gleichzeitig noch für fünf weitere. «In der einen Hand hielt ich den Koffer, an der anderen die Kinder.» Die älteste Tochter trug eine grosse Kiste mit den Hühnern auf dem Kopf. Eines der Kleinkinder erstickte im Tränengas.
Die ländlichen Regionen, die ehemaligen Homelands, sind für viele Khulumani Mitglieder immer noch ein wichtiger Bezugspunkt. Dort ist ihr eigentliches Zuhause. Dort finden Begräbnisse und andere Feste statt. Dort wird über Jahrzehnte hinaus an einem kleinen Haus gebaut. Dort leben die Vorfahren, dort will man sterben. Doch das Leben in den ein bis zwei Tagreisen von Kapstadt entfernten Dörfern ist schwierig, der Boden ist schlecht für die Landwirtschaft, die Preise für Lebensmittel sind doppelt so hoch wie in der Stadt, die Arbeitslosigkeit noch höher als in den Städten.
Thembi Mvula reist zweimal jährlich in die Transkei in das Dorf, in dem sie aufwuchs. Anfang der 80er Jahre wurde sie in Kapstadt mehrmals verhaftet und in die Transkei deportiert. Sie kehrte immer wieder zurück, zu Fuss oder mit Glück auch auf Rädern. «Wir waren dumm damals. Folter machte uns dumm. Wir kehrten nicht nach Hause in die Transkei zurück, sondern versuchten in der Stadt zu leben,» erzählt sie. Sie baut an ihrem Haus im Dorf, welches seit Jahrzehnten nur aus Blechwänden und Backsteinen besteht und ständig wieder in sich zusammenfällt. Sie und ihr Ehemann erhielten das Stück Land damals. Er verstarb kurz darauf und liess sie mit drei Söhnen zurück. Einer von ihnen wohnt in einer Blechhütte neben dem Zweizimmerhaus seiner Mutter, er ist arbeitslos. Der jüngste arbeitet bei einer privaten Sicherheitsfirma und ernährt so seine Frau, sein Kind und seine Mutter. Der älteste wurde bei einer Demonstration der Gewerkschaften in den 80er Jahren angeschossen, war dadurch hüftabwärts gelähmt und kam vor ein paar Jahren ums Leben, als er auf Krücken eine Strasse überqueren wollte.
Die Kehrtwende der südafrikanischen Regierung
Viele Khulumani Mitglieder sind Anhänger des African National Congress (ANC), der damaligen Befreiungsbewegung und seit 1994 die praktisch unumstritten stärkste Partei im Land. Die Gleichgültigkeit, mit der die Mbeki Administration (1999 – 2009) den Forderungen von Khulumani begegnete, erschütterte sie nicht in ihrem Glauben an das, was Nelson Mandela begonnen hatte: die schrittweise Aufarbeitung der Vergangenheit, die Anerkennung des Leidens einer Nation, die Wiederherstellung der Würde eines vorgängig unterdrückten Volkes. Zuma werde dieses Erbe von Mandela weiterführen, wird gesagt. Und so war es für viele nicht so überraschend, dass die neue Regierung am 1. September ihre bisherige Opposition gegen die Klagen rückgängig machte. Die monatlichen Treffen von Khulumani Western Cape finden im Gemeinschaftszentrum von Salt River statt. Dort werden die Mitglieder auch über die neusten Entwicklungen im Prozessgeschehen informiert, zum Beispiel darüber, dass das New Yorker Bezirksgericht die Klagen im April nach fast sieben Jahren zugelassen hat. Zu diesen Treffen reisen oft mehr als hundert Mitglieder aus den Townships und den umliegenden Städten an. In Salt River befindet sich auch das Büro der Provinz Western Cape.
Mitgliedschaft bedeutet für die einzelnen Mitglieder von Khulumani vor allem gegenseitige Unterstützung und Anerkennung der schmerzhaften Erfahrungen und des täglichen Kampfes für eine gewisse Normalität. So hilft man sich zum Beispiel bei Anträgen für die Sonderrente für ehemalige KämpferInnen oder bei Unterstützungsgesuchen für die Enkelkinder. Dazu gehört auch, sich gegenseitig mit Essen auszuhelfen, einander einfach nur zuzuhören oder Diskussionen zu den letzten Entwicklungen in den Townships und im Land zu führen.
Die Mitgliedschaft bei Khulumani bestätigt den Betroffenen, dass sie mit dem Erlebten und ihren heutigen Schwierigkeiten nicht alleine sind und dass die Geschehnisse der Vergangenheit nicht als abgeschlossene Geschichten behandelt werden, sondern in der Gegenwart Anerkennung finden. Dazu trägt auch die wachsende Aufmerksamkeit der südafrikanischen und internationalen Gemeinschaft bei.
Der Beitrag erschien im Mitteilungsblatt vom Oktober 2009 des Fonds für Entwicklung und Partnerschaft in Afrika FEPA. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung