Indischer Tigerschutz im Kolonialstil
Schlaflose Nächte hatte er den Menschen in mehreren Dörfern von Wayanad im südindischen Kerala bereitet: ein Tiger, der sich aus dem Wald gewagt, über ein Dutzend Rinder gerissen und auch Menschen angegriffen hatte. Im vergangenen Jahr liess die Forstbehörde ihn töten. Die verschreckten Dorfbewohner hatten Druck auf die Behörden ausgeübt, das wilde Tier im Zaum zu halten. Dass der Tiger erschossen wurde, hat zu einem Aufschrei innerhalb und ausserhalb des Bundesstaates geführt, die "Tierschützer" liefen Sturm. Bauernverbände und politische Parteien befürworteten das Einschreiten der Regierung. Aber die Anwohner haben ihr Vertrauen in den Naturschutz verloren und haben das Gefühl, die Naturschutzbemühungen richteten sich gegen ihre Existenz.
Naturschutz voller Widersprüche
Die sehr kommerziellen Interessen und der Naturschutz im Kolonialstil haben zu einer völligen Entfremdung der lokalen und indigenen Bevölkerung von den Schutzbemühungen geführt. Denn der Naturschutz nach westlichem Muster vernachlässigt auf bequeme Weise die historische Rolle, das Wissen und die Rechte der ansässigen Bevölkerung und entzieht ihr ihre Lebensgrundlage. Gleichzeitig werden Tiger-Habitate für reiche Luxustouristen geöffnet, während die traditionellen BewohnerInnen der Wälder, die über Jahrhunderte mit Tigern und anderen Tieren des Waldes gelebt haben, verdrängt werden.
Gefördert durch verschiedene Fernsehsender ist in den vergangenen Jahren das "Bewusstsein" für den Tigerschutz gestiegen, insbesondere unter InderInnen der städtischen Mittel- und Oberschicht. Plötzlich gab es viele selbsternannte freiwillige Tigerschützer und Nichtregierungsorganisationen, die die Einheimischen als GegnerInnen betrachteten. Sie geniessen ihren luxuriösen, auf Konsum ausgerichteten Lebensstil in den Städten und bezichtigen die Waldbewohner und ansässigen Bäuerinnen der Naturzerstörung.
In den Tigerschutzprogrammen wurde der Ökotourismus als Methode des Naturschutzes identifiziert, die traditionellen BewohnerInnen des Waldes wurden zu DienerInnen und Zulieferern der so genannten ‹ÖkotouristInnen› und ‹professionellen TierschützerInnen›. Mit dem Ökotourismus wird das konsumorientierte Modell des Massentourismus auf ökologisch sensible Regionen ausgeweitet. Die Auswirkungen sind besorgniserregend, denn dies geschieht an den empfindlichsten Orten und betrifft indigene Gemeinschaften und ihre Kulturen.
Critical Tiger Habitats – CTHs
Grosse wirtschaftliche und andere Interessengruppen übergehen die Rechte lokaler, insbesondere indigener Gemeinschaften. Mit der Ausweisung neuer Tiger-Habitate ("Critical Tiger Habitats" – CTHs) und Schutzgebiete vertreibt das Umwelt- und Forstministerium Menschen aus dem Wald und von ihrem angestammten Land. Viele der Tiger-Reservate verletzen bestehende legislative Bestimmungen, die die Rechte der Gemeinschaften, die Dezentralisierung der Macht und die Beteiligung der Bevölkerung an der Staats- und Regierungsführung sicherstellen sollen.
Zum Beispiel verletzt die Ausweisung neuer Tigerreservate ganz klar zentrale Forstgesetze, in denen die Rechte der im Wald lebenden Gemeinschaften auf ihr Land und andere Ressourcen anerkannt werden. In Folge der Fortschreibung kolonialer Gesetze waren den WaldbewohnerInnen in Indien ihre Rechte jahrzehntelang vorenthalten worden. Heute dürfen CTHs nach dem Gesetz erst nach einer öffentlichen Konsultation, auf wissenschaftlicher Grundlage unter Einholung von Fachmeinungen und mit Zustimmung der WaldbewohnerInnen der Region ausgewiesen werden. Ausserdem muss ein Umsiedlungsplan vereinbart sein. Doch diese Bestimmungen werden nicht eingehalten und im Namen des Naturschutzes von den Behörden umgangen.
Lokalbevölkerung der demokratischen Rechte beraubt
Auch der "Panchayats Extension to Scheduled Areas Act 1996" wird beim Tigerschutz immer wieder verletzt. Dieses Gesetz wurde von der indischen Regierung erlassen, um die Lokalverwaltung in die Lage zu versetzen, ihre natürlichen Ressourcen selbst zu managen. Die Tierschutzgesetze und der Forest Right Act 2006 werden in den Richtlinien für CTHs zwar meistens eingehalten, doch bei der Ausweisung der Schutzgebiete und in der Umsetzung werden auch diese Gesetze und Bestimmungen verletzt.
In der Realität werden die Waldrechte in Indien nur schleppend umgesetzt. Immer öfter wird nicht gesetzeskonform vorgegangen. Die Rechte der Gemeinschaften werden besonders in Schutzgebieten nur verzögert oder gar nicht anerkannt, und noch mehr gilt das für Tigerreservate. Ende 2008 war eine Gesamtfläche von 26’749 Quadratkilometer in 14 Bundesstaaten als CTH ausgewiesen. Mindestens 77’000 Familien lebten innerhalb dieser Schutzgebiete. Ein Jahr später waren erst 3’000 Familien umgesiedelt worden. 2010 waren die Tigerschutzgebiete auf 32’878 Quadratkilometer Kernzonen beziehungsweise CTH ausgeweitet worden. Die Anzahl der Tigerreservate stieg von 28 auf 41, in 17 indischen Bundesstaaten.
In den meisten Tigerreservaten gab es Zwangsvertreibungen oder -umsiedlungen. Gleichzeitig wurden riesige Waldflächen "umgenutzt", was die Widersprüche in der Naturschutzpolitik deutlich macht.
Wer profitiert davon?
Indiens Schutzgebiete, insbesondere die ausgewiesenen Tigerreservate, sind beliebte Touristenziele. Die meisten der BesucherInnen sind Elite-TouristInnen, die viel Geld ausgeben. Die meisten von ihnen kommen zum ersten Mal und geben bei einer Aufenthaltsdauer von fünf Tagen im Schnitt 450 Euro aus. Die Anzahl der BesucherInnen der Tigerreservate wächst um 15 Prozent jährlich.
Der Mangel an Regulierung der Tourismus- und Infrastrukturentwicklung schafft auch für die Tierwelt viele Probleme. Der Bau von Mauern und touristischen Einrichtungen beeinträchtigt die Bewegungsfreiheit der Tiere. Die touristische Infrastruktur erfordert grosse Mengen an Ressourcen, wie z.B. Wasser. Das führt im Sommer zu Wasserknappheit für die Tiere.
All diese Projekte werden im Namen von Naturschutz und Entwicklung gerechtfertigt, unter der Annahme, der Tourismus sei der beste Grund, Tiger zu schützen. Doch die eigentlichen Fragen sind: Wer profitiert davon – und zu welchen Kosten? Eine sorgfältige Analyse der bestehenden Realitäten und verfügbaren Studien zeigt, dass dieser marktorientierte Naturschutz kontraproduktiv ist und dass die ortsansässigen Gemeinschaften von diesem Naturschutzgeschäft nur sehr minimal oder so gut wie gar nicht profitieren. Die Hotels rund um die Tigerreservate machen zwar gute Profite, doch sie zahlen nur sehr wenig Grundsteuer an die Lokalverwaltung, und viele der Hotels zahlen überhaupt keine Steuern. In einer Studie wurde festgestellt, dass im Tourismus in Schutzgebieten nur eine von tausend Arbeitskräften einer Region Arbeit findet. Diejenigen, die eine Anstellung finden, werden für niedere Tätigkeiten wie Garten- und Reinigungsarbeiten angelernt. Für die gut bezahlten Tätigkeiten wie die Küchenleitung und das Management werden Mitarbeiter von auswärts eingestellt. Das Argument von lokaler Entwicklung durch Ökotourismus stimmt also nicht.
Landraub für Hotelanlagen
Weiteren Anlass zur Sorge gibt der Immobilienboom, der in diesen Gegenden durch die touristische Entwicklung in Gang gesetzt wird. Einheimische verkaufen ihr Land und ziehen vom Park weg. Auswärtige Investoren kaufen Grundstücke am Rande der Parks, um neue touristische Einrichtungen zu bauen, und die Grundstückspreise schnellen in die Höhe. Die Eigentümer der Hotels und Anlagen verletzten die Bestimmungen, um aus dem Tiger-Hype Kapital zu schlagen. Zum Beispiel gehört die Pufferzone des Kanha-Tigerreservats zur "Schedule 5"-Kategorie, in der Land der indigenen Bevölkerung nicht ohne Genehmigung an Nicht-Indigene verkauft werden darf. Dennoch wurden von 2002 bis 2008 rund 80 Hektar, hauptsächlich landwirtschaftlich genutzte Flächen, an Aussenstehende verkauft. Es heisst, das Land sei von Hotels und Resorts in illegalen Transaktionen gekauft worden.
Die Reiseveranstalter haben grosse Macht und ihre einflussreiche Lobby erhält vorbehaltlose Unterstützung durch die Forstbehörde. Eine elitäre Naturschutzpolitik, die bislang nur zulasten der BewohnerInnen und AnwohnerInnen der Parks ging, hat zu illegalen Aktivitäten in den Tigerreservaten geführt. Der Ökotourismus im Namen von Naturschutz und lokaler Entwicklung fördert das Geschäft mit dem Pseudo-Naturschutz. Der Tigerschutz ist eine neue Form des Kolonialismus. In vielen Gebieten kommt es zu Zwangsvertreibungen der Menschen durch die Behörden ohne seriöse wissenschaftliche Studien oder mit Unterstützung einseitig verfälschter Studien bekannter Naturschutz-Consultants. Für viele von ihnen eröffnen sich dadurch neue Wege zur Macht durch Korruption.
Sumesh Mangalassery ist Direktor von Kabani – the other direction, einer Initiative in Kerala (Indien), die sich für eine nachhaltigere Tourismusentwicklung einsetzt.
Übersetzung aus dem Englischen: Christina Kamp