Internationales Tribunal zu Vertreibungen in Venedig
Seit 2011 organisiert die International Alliance of Inhabitants (IAI) als globales Netzwerk aus Bürgerinitiativen und Basisbewegungen solche Tribunale. Sie will damit auf eine oft verfehlte Wohn-, Siedlungs- und Wirtschaftspolitik aufmerksam machen, die die Rechte der Menschen übergeht. In Folge der Anhörungen entwickelt eine Jury aus Menschenrechts- und Tourismusexperten konkrete Empfehlungen, um die Rechte der Betroffenen zu schützen und durchzusetzen.
„Das Recht auf angemessenes Wohnen im internationalen Menschenrechtsrahmen bedeutet einen Ort, an dem man in Frieden, Sicherheit und Würde leben kann. Es ist also sehr viel mehr als nur vier Wände und ein Dach. Es ist mit vielen anderen Rechten verknüpft, darunter dem Recht auf Gesundheit und dem Recht auf Bildung“, erklärt Leilani Farha, UN-Sonderberichterstatterin für das Recht auf angemessenes Wohnen, in ihrer Videobotschaft an das Tribunal. Sie schätzt das internationale Tribunal als einen Raum, in dem Menschen ihr Recht auf angemessenen Wohnraum wirklich einfordern können. In vielen Ländern fehlten die entsprechenden Mechanismen im Rechtssystem, die dies ermöglichen würden.
In vielen Teilen der Welt spielt der Tourismus eine nicht unerhebliche Rolle, wenn Menschen von ihrem Land oder aus ihren Wohnungen oder Häusern verdrängt oder vertrieben werden. Manchmal ist er die Hauptursache von Vertreibung, in anderen Fällen hat er einen mehr oder weniger grossen Anteil an komplexen Konflikten oder Entwicklungsszenarien. Fünf Fälle von Vertreibung, die bereits stattgefunden haben, stattfinden oder bevorstehen, wurden vor dem Tribunal in Venedig angehört.
Folgen der Touristifizierung Venedigs
Auf der Insel Pellestrina wie auch in anderen Bezirken Venedigs und vor allem im historischen Zentrum ist es für Einheimische geradezu unmöglich geworden, Wohnraum zu mieten, berichtet Matelda Bottoni von der venezianischen Vereinigung der Mieter (Unione Inquilini). Nur “Ferienwohnungen” seien auf dem Markt, die keine langfristige Nutzung vorsehen. Eigentumswohnungen oder Häuser seien für die meisten Bewohnerinnen und Bewohner der Insel prohibitiv teuer. Einheimische, die durch ihre Arbeit oder Familiensituation darauf angewiesen sind, in Pellestrina zu wohnen, sähen sich gezwungen, auf Touristenunterkünfte auszuweichen. Die Mietpreise dafür seien hoch, die Unterkünfte nur temporär verfügbar. Mit der Verdrängung der Wohnbevölkerung durch die Touristifizierung werden auch die medizinische Grundversorgung und Bildungsangebote zurückgefahren. So zieht die Verletzung des Rechts auf Wohnraum weitere Rechtsverletzungen nach sich. Allein in Pellestrina seien etwa 200 Familien betroffen, so Matelda Bottoni. Betrachtet man ganz Venedig, seien es noch viel mehr.
Immobilienspekulation in La Boca, Buenos Aires
In La Boca im Süden von Buenos Aires kam es im Laufe der vergangenen Jahre immer häufiger zu Zwangsräumungen in Folge massiver Immobilienspekulation. Rund 2500 Familien seien betroffen. Der Tourismus werde dabei vorgeschoben – als Vorwand, nicht als Ursache, meinen Natalia Gimena Quinto und Carolina Sticotti. Sie engagieren sich im lokalen Stadtteil-Netzwerk „La Boca resiste y propone“, das Rechtsberatung in Fällen von Zwangsräumung leistet. Es hilft auch in Notfällen wie Bränden und mit notdürftigen Reparaturen in den fast unbewohnbaren Häusern. Zur Durchsetzung ihrer politischen Forderungen nach Behebung des Wohnungsnotstands, sozialem Wohnungsbau und der Instandhaltung der maroden Häuser hoffen die Vertreterinnen aus La Boca auf das Tribunal, das den politischen Druck auf die Stadtverwaltung erhöhen soll.
Neuer Flughafen für die Hauptstadtregion Neu-Delhi
Einem geplanten Grossflughafen in Jewar im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh sollen nach indischen Presseberichten rund 20 Dörfer mit rund 57.000 Menschen weichen. Die Bewohnerinnen und Bewohner lebten bislang hauptsächlich von der Landwirtschaft. Der Flughafen sei Teil der weiteren Urbanisierung und Industrialisierung der Hauptstadtregion Neu-Delhi und nur eines von mehreren Infrastrukturprojekten, erläuterte Swathi Seshadri von der indischen Nichtregierungsorganisation Equations. Der vorgesehene Flughafenstandort liegt zwischen Delhi und Agra mit dem Taj Mahal als einer der wichtigsten Sehenswürdigkeiten im Indien-Tourismus.
Gewalt gegen Maasai in Kenia
Die Vertreibung der Maasai von ihrem angestammten Land in Kenia hat eine lange Geschichte, die über hundert Jahre zurückreicht. Die als Nomaden lebenden Viehzüchter hätten inzwischen 50 bis 70 Prozent der Flächen verloren, das sie vor 1904 nutzten, berichtete Wilfred Olal Madigo von kenianischen Anti-Eviction-Campaign. In Folge einer Dürre Anfang 2017 hätten Maasai-Viehhirten auf der Suche nach Weideland versucht, auf grosse Schutzgebiete auszuweichen, die in der Hand privater Grossgrundbesitzer sind und auch für den Tourismus und die Landwirtschaft genutzt werden. In Gebieten, die einst ihnen gehörten, seien sie nun als Eindringlinge behandelt worden. Es kam zu gewaltsamen Konflikten. Zum Schutz weisser Grossgrundbesitzer sei das kenianische Militär eingeschritten, über 50 Menschen und tausende Tiere seien getötet worden. Das aktuell dringlichste Anliegen der Betroffenen sei das Ende der Gewalt, so Madigo.
Landraub in Sri Lanka für den Tourismus
Im August 2010 wurden in Paanama an der Ostküste Sri Lankas 350 Familien mit Waffengewalt von ihrem Land vertrieben, ihr Besitz niedergebrannt. Das Militär besetzte 1.220 Morgen Land, wo inzwischen bereits ein Hotel gebaut worden sei, berichtete Somasiri Punchirala, einer der zwangsvertriebenen Bauern, die sich wehren und ihr Land zurückfordern. Seit mehreren Jahren seien sie von ihren Lebensgrundlagen – der Landwirtschaft und Fischerei – abgeschnitten. Dafür verlangen sie Entschädigung, die ihnen einen Neubeginn auf ihrem Land ermöglicht. „In Sri Lanka haben wir alle unsere Möglichkeiten ausgeschöpft. Das Tribunal ist unsere letzte Hoffnung, unser Land zurückzubekommen“, sagt Somasiri. Seine Gemeinschaft ist nur eine von mehreren in Sri Lanka, die vertrieben werden, um einer touristischen Erschliessung den Weg zu ebnen – einer Erschliessung, an der das Militär wesentlich beteiligt ist.
Empfehlungen in Arbeit
Zu allen vor dem Tribunal in Venedig angehörten Fällen arbeitet die internationale Jury derzeit allgemeine ebenso wie fallspezifische Empfehlungen aus. Sie sollen dabei helfen, diejenigen, die die Vertreibungen verursacht haben, zur Verantwortung zu ziehen und gegebenenfalls Möglichkeiten zur Vermittlung zu nutzen. „Das Tribunal dient nicht nur dazu, solche Fälle zu verurteilen. Insbesondere sollten die Empfehlungen des Tribunals umgesetzt werden – mit Hilfe der Solidarität auf lokaler und globaler Ebene“, so Cesare Ottolini, internationaler Koordinator der IAI.