Basel, 15.09.2010, akte/ Die meisten Regierungen haben sich in verbindlichen Verträgen zur Respektierung der Menschenrechte verpflichtet. Dass diese trotzdem nicht eingehalten werden, liegt unter anderem an "vier Trugschlüssen", gegen die Khan mit Studien, Argumenten und Beispielen anschreibt.
Dazu gehört erstens die aus dem kalten Krieg stammende Spaltung der Menschenrechte in politische und ökonomische – die Westmächte beklagten das Fehlen von politischen Rechten in kommunistischen Ländern, letztere verwiesen auf den Mangel an sozialen und wirtschaftlichen Rechten in den kapitalistischen Staaten. Die beiden nächsten Trugschlüsse: Nur bürgerliche Menschenrechte sind eigenständige und einklagbare Rechte, und: Menschenrechte sind überhaupt "zu politisch", Armutsbekämpfung hat sich auf materielle Werte und Rahmenbedingungen zu konzentrieren. Mit dem vierten Trugschluss ist schliesslich die Idee gemeint, der freie Markt regle sowieso alles, wenn ein Land erst einmal seine Märkte geöffnet und ein gewisses Wirtschaftswachstum erzielt habe.

Wirtschaftswachstum ohne Menschenrechte
Gemäss der Definition der Weltbank leben Menschen, die weniger als 1.25 Dollar am Tag verdienen, in "extremer Armut", wer weniger als zwei Dollar verdient, gilt als "arm". Gemessen an diesem Massstab lebt über eine Milliarde Menschen in extremer Armut, und weitere zwei Milliarden sind arm. Die Definition der Armut über das Einkommen legt den Lösungsweg nahe, dieses über ein Wirtschaftswachstum zu steigern. Irene Khan, ehemalige Generalsekretärin von Amnesty International, argumentiert gegen dieses Credo an: "In Ländern mit einer wachsenden Wirtschaft verstärken sich im Allgemeinen auch die Ungleichheiten beim Zugang zu den grundlegenden Gütern, die für ein Leben in Würde unentbehrlich sind. Allzu oft werden Menschen, die nicht mithalten können, wegen ihres Geschlechts oder ihrer Rasse, ihrer Sprache, ethnischen Zugehörigkeit oder Kaste ausgegrenzt. Wenn wir Diskriminierung, Marginalisierung und Ausgrenzung nicht gezielt angehen, kommen bestimmte Gruppen zwar voran, andere jedoch nicht."

Irene Khan übernahm 2001-2009 als erste Frau, erste Muslimin und erste Person asiatischer Herkunft das Generalsekretariat von Amnesty International. Zuvor war sie beim UNO-Flüchtlingskommissariat UNHCR tätig. Ihre Amtszeit trat sie nach der Neuausrichtung der Organisation an, die sich nicht mehr nur für gewaltlose politische Gefangene, sondern ganzheitlich für die Einhaltung aller Menschenrechte einsetzen wollte.
Armut: Entbehrung, Unsicherheit, Stimmlosigkeit und Ausgrenzung
In "Die unerhörte Wahrheit" begründet sie nicht nur den Wechsel des Mandats der Organisation, sondern auch die Dringlichkeit, Menschenrechte in der Diskussion um Armutsbekämpfung als zentralen Angelpunkt zu begreifen. Egal ob die Lösung der Armut in Wirtschaftswachstum, Fair Trade, Massnahmen gegen Klimawandel, Innovation, mehr Entwicklungshilfe oder Tobinsteuer gesehen wird: Die Menschenrechte müssen Kernpunkt jeder Strategie für die Entwicklungszusammenarbeit und Armutsbekämpfung sein, ebenso wie für die Datenerhebung zur Armut. Sie kritisiert, dass in der Erklärung der Millenniumsziele zwar von den Menschenrechten die Rede ist, aber keine konkreten Indikatoren zu deren Durchsetzung festgehalten worden seien. Die Durchsetzung der Menschenrechte sei aber für die Umsetzung der Millenniumsziele unabdingbar. Denn Entbehrung, Unsicherheit, Stimmlosigkeit und Ausgrenzung seien die Faktoren, die Armut definieren. Und sie sind miteinander verknüpft.
Khan lässt die LeserInnen an vielen bewegenden Geschichten von Begegnungen mit Menschen aller Kontinente teilhaben. Ein Beispiel ist die Geschichte von Rosie, einer Frau unweit von Durban mit fünf Kindern, die von ihrem Mann immer wieder geschlagen wurde, bis er sie eines Tages so brutal misshandelte, dass sie an den Verletzungen starb. Khan fragte nach, weshalb sie nicht Anzeige erstattet oder eine gerichtliche Schutzverfügung beantragt hatte, schliesslich gehören die gesetzlichen Bestimmungen Südafrikas zum Schutz der Frauen vor familiärer Gewalt zu den fortschrittlichsten Regelungen weltweit. Sie erfuhr: Rosie hatte kein Geld für die Busfahrt aus ihrem Dorf zum nächsten Gericht.
Eine Milliarde Menschen gehen jeden Abend hungrig zu Bett. Ebenso viele leben in Slums. Jede Minute stirbt eine Frau bei der Geburt ihres Kindes. 2,5 Milliarden Menschen leben ohne hygienische sanitäre Einrichtungen, die Folge sind 20’000 tote Kinder täglich. In dieser "schlimmsten Menschenrechtskrise unserer Welt", wie Khan es nennt, ist "Die unerhörte Wahrheit" eine gut lesbare Orientierungshilfe, ein beeindruckendes Argumentarium und ein einleuchtender Forderungskatalog zur Unteilbarkeit der Menschenrechte und der Notwendigkeit ihrer Durchsetzung.

Irene Khan: Die unerhörte Wahrheit. Armut und Menschenrechte. Aus dem Englischen von Jürgen Bauer und Fee Engemann und Edith Nerke. Fischer Verlag, Mai 2010, 320 Seiten, gebunden, CHF 34.90; Euro 22.95 (unverbindliche Preisangabe), ISBN 978-3-10-041514-1