Die ständige Angst ist ein Lebensgefühl, an das sich die Menschen in Israel und Palästina gewöhnt haben – und doch nicht gewöhnen können. Rafik Schami, der in Deutschland lebende syrische Schriftsteller, erhielt während des Sommersemesters 2000 an der ETH Zürich die Möglichkeit, israelische und palästinensische Autorinnen und Autoren zum öffentlichen Gespräch einzuladen. Während andere israelisch-palästinensische Dialogprojekte wenig Tiefe erreichten – sie scheiterten an der Illusion, Versöhnung komme ohne die Bewältigung der von Entrechtung und Entfremdung geprägten Vergangenheit aus, – glückte Rafik Schamis Vorhaben: Mit Gewinn wurde hier nicht „Frieden“ als Thema gewählt, sondern die Erfahrungen mit der anhaltenden Besatzung und die beidseitige Frustration.
Davon zeugt bereits der Titel des schönen Bandes „Angst im eigenen Land“, der neun Positionen und Sprachwelten aus Israel und Palästina dokumentiert. Die israelische Krimi-Autorin Batya Gur beschreibt „eine existentielle, reale Angst davor, erneut bombardiert, beschossen, verwundet, eingenommen, besiegt, besetzt, rausgeschmissen zu werden.“ Mitleid mit ihrer, der israelischen, Seite lehnt sie schonungslos ab: „Das ist normal. Wenn man ein Land besetzt, muss man um seine eigene Existenz fürchten.“ Für den israelischen Soziologen Ilan Pappe verstellt in Israel die nationalistisch aufgeladene Angst den Blick für die eigene Schuld an der Unterdrückung des „anderen“. Andererseits verkenne die palästinensische Gesellschaft die Wirkung der Ur-Angst des Holocaust in Israel in fataler Weise und fürchte sich davor, das eigene Monopol auf den Opfer-Status in Frage gestellt zu sehen. Fast wörtlich folgt ihm der palästinensische Schriftsteller Samir El-Youssef – dass sich die Verwandtschaft literarischer Beiträge nicht an die Nationalität hält, charakterisiert dieses Buch.
Ein verwirrender Genuss sind zwei Texte, die in den USA, aus etwas Distanz also, entstanden sind: Anton Shammas sieht Palästina/Israel als „sich überschneidende Länder“ mit „nomadisierenden Geografien und hyper-imaginierten Gemeinschaften“. Er, selber Palästinenser, schreibt bisweilen in Hebräisch. Die „arabische Jüdin“ Ella Shohat schildert eine schmerzliche Schlüsselerfahrung als Kind: Die in Bagdad erlernte arabische Muttersprache muss sie in Israel dem sozial allein korrekten Hebräisch opfern. Grenzen können in keinem Camp David endgültig festgelegt werden, sie verlaufen mitten durch die eigene Identität. Die ent-falteten Landkarten sind sehr persönlich und mit politisch-geografischen Kategorien nicht deckungsgleich. Aber der Bezugsrahmen verbindet: Das Buch ist zu einem Plädoyer für ein gemeinsames „eigenes Land“ geworden. Diese Utopie stellt sich als einzig realistische Alternative dar zur herrschenden Politik, die Frieden durch Abriegelung und Apartheid erzwingen möchte.
An diese Debatte wäre hier bei uns anzuknüpfen. Hiesige Stationen einer kritiklosen Parteinahme für Israel wären aufzuarbeiten. Zusammenhänge, beispielsweise zwischen dem helvetischen Antisemitismus und der Verdrängung der Palästinenser, wären ebenfalls in eine Sprache zu bringen, welche Ängste abbaut und Dialoge ermöglicht.
Heute besetzt die Kriegsberichterstattung mehr denn je unsere Vorstellungen von Israel und Palästina. Die sorgfältige Sprache und der freie Geist der Publikation weisen darüber hinaus.

* Matthias Hui ist Mitarbeiter der Fachstelle für Oekumene, Mission und Entwicklungszusammenarbeit OeME der Reformierten Kirchen Bern-Jura

Rafik Schami (Hrsg.): Nagel&Kimche, Zürich 2001, 175 Seiten, Fr. 23.40