Jerusalem, du meine bittersüsse Liebe
Jeden Sonntagmorgen ist es meine Aufgabe, die betagten Onkel meiner Mutter in der Altstadt von Jerusalem abzuholen. Sie leben im ältesten Teil des muslimischen Quartiers. Ihr Haus gleicht einem Museum; im hundertjährigen Wohnzimmer stehen zehn Holzstühle. Gebaut hat sie mein Urgrossvater. Er war Tischler und floh Ende des 19. Jahrhunderts vor der osmanischen Armee nach Brasilien. Später kam er in seine geliebte Stadt zurück, heiratete und zog neun Kinder gross. Ich habe die Geschichte und die Schönheiten dieser einen Quadratkilometer grossen, ummauerten Altstadt verinnerlicht. Meine Augen leuchten jedes Mal, wenn ich das grossartige Damaskustor erblicke, das allen Kriegen und Konflikten getrotzt hat. Der Geruch der Gewürzmischung Zas’tar sowie des Süssgebäcks Kenafa ist unwiderstehlich.
Manchmal fragt mich ein Freund, ob ich in der Grabeskirche für einen Kranken eine Kerze anzünden oder in der Al-Aqsa-Moschee ein Gebet sprechen kann. Religion ist in meiner Familie kein Thema. Viele meiner Verwandten leben in gemischten Ehen und in gemischten Quartieren. Mein grösstes Problem sind die israelischen Soldaten, die mir den Zutritt zur Moschee oder zur Kirche verwehren. Einmal forderte mich ein Soldat vor der Al-Aqsa- Moschee auf, Koranverse aufzusagen, weil er wissen wollte, ob ich Muslimin bin! Als Palästinenserin bin ich sowohl mit islamischen als auch mit christlichen
Gebeten und Traditionen aufgewachsen. Israel vergisst, dass der arabische Patriarch Sophronius von Jerusalem dem Kalifen Umar die Schlüssel übergab, als dieser in Jerusalem ankam und dass die muslimischen Familien Judeh/Nusseibeh als traditionelle Wächter der Grabeskirche immer noch im Besitz der Schlüssel sind. Diese Regelung hat Jahrhunderte überdauert. In den fünfzig Jahren der israelischen Besetzung hat sich die Situation verschlechtert.
Der Zutritt für die Freitagsgebete in der Al-Aqsa-Moschee ist nur noch Männern über fünfzig Jahre gestattet. Die Jüngeren beten in der Nähe der ummauerten Altstadt. Christen ohne israelischen Personalausweis oder Ausnahmegenehmigung haben keinen Zutritt zu ihren Kirchen. Hochzeiten werden in den Kirchen von Bethlehem oder Ramallah durchgeführt, damit möglichst die ganze Verwandtschaft teilnehmen kann.
Unsichtbarer Ost-West-Graben
Ich habe keine Angst, unverschleiert, mit einem kurzen Rock oder engen Hosen durch Jerusalem zu laufen. Ich kann in palästinensische Theatervorstellungen und Konzerte gehen und mit Freunden in palästinensischen Restaurants essen. Die junge Generation ist kosmopolitisch und widersetzt sich den strengen historischen, religiösen und politischen Traditionen. Dennoch haben meine Freunde und ich ganz bewusst entschieden, nur für zwingende Behördengänge nach Westjerusalem zu gehen. Aber junge Israeli nehmen auch nicht am Nachtleben in Ostjerusalem teil. Ein unsichtbarer Ost-West-Graben trennt das sogenannte "Vereinigte Jerusalem".
Angst habe ich davor, dass mich ein israelischer Soldat anhält, um mich zu verhören oder mich ein bewaffneter jüdischer Siedler belästigt, der in unserem Stadtteil lebt. Diese Schattenseiten einer geteilten Stadt zerstören auch das gesellschaftliche Leben junger Palästinenser in Jerusalem – um acht Uhr abends sind die Strassen leergefegt. Das Gefühl der politischen Unsicherheit macht meine Mutter fast wahnsinnig. Sie drängt mich am Telefon, nicht zu spät nach Hause zu kommen. "Mama, es ist Wochenende, erst zehn Uhr und ich bin 24!" "Habibti, am Checkpoint Kalandia haben sie gerade ein Mädchen erschossen!" "Der Checkpoint ist zehn Kilometer weit weg. Ich lebe nur einmal und ich möchte mein Leben geniessen!" – Ich schalte mein Telefon auf stumm. Bittersüsses Jerusalem!