«Jesus, beschütze uns vor den Eindringlingen» – ein Interview mit Leo Hickman
Herr Hickman, immer noch ohne Auto? Bei unserem letzten Gespräch, 2006 anlässlich Ihres Buches „Fast nackt“, fuhren Sie und Ihre Frau ausschließlich Fahrrad und U-Bahn.
Leo Hickman: Ich traue mich kaum es zu sagen, aber ich habe jetzt tatsächlich das erste Mal in meinem Leben ein Auto gekauft. Zwar gebraucht und mit Flüssiggas, aber es ist ein Auto.
Was hat zu diesem Sinneswandel geführt?
Es ist kein Sinneswandel. Aber wir wohnen nicht mehr in London, ich bin mit meiner Familie aufs Land in meine Heimat Cornwall gezogen, und ohne Auto sitzt man dort fest. Dafür haben wir jetzt einen Gemüsegarten.
Und wie lässt sich das Landleben mit Ihrem Job als Redakteur beim Guardian vereinbaren?
Ich nehme den Schlafwagen, wenn ich nach London muss. Und zum Bahnhof ist es nicht weit.
Wie kamen Sie denn auf die Idee, nach dem Alltagsleben in Ihrem neuen Buch „Und tschüss!“ die Pauschalreisen aufs Korn zu nehmen?
Wir wohnten im Süden von London. Wenn ich nachts nicht schlafen konnte und hörte, wie die Maschinen den Flughafen Heathrow anflogen und in die Gegenrichtung wieder wegflogen, dann lag ich im Bett und überlegte: Wohin fliegen die wohl alle und warum? Fliegen sie in die Ferien? Wissen sie überhaupt, dass man auch Ferien machen kann ohne zu fliegen? Ich hatte ja inzwischen festgestellt, dass man auch mit Zug und Fahrrad einen großartigen Italienurlaub erleben kann. Und dann bin ich der Sache nachgegangen, wie man das halt so macht, wenn man Journalist ist.
Und dann haben Sie selbst erst einmal eine Weltreise unternommen – also genau das getan, wovon Sie uns abbringen wollen …
… ich musste, um den ungebremsten Strom der Pauschalreisen zu beschreiben, erst einmal in diesen Strom eintauchen! Ganz ohne Widersprüche geht es eben so gut wie nie. Jetzt hoffe ich nur, dass mein eigener großer Fußabdruck, den ich hinterlassen habe, wenigstens dazu beiträgt, dass künftig die Fußabdrücke der Ferienreisenden kleiner und weniger tief werden.
Wie sieht denn zum Beispiel der CO2-Fußabdruck einer gemütlichen Kreuzfahrt aus?
So ein Schiff verbraucht in der Woche 900 827 Liter Schwerbenzin.
Mit welcher Erkenntnis sind Sie von Ihrer Erdumrundung zurückgekehrt?
Tourismus ist eine Industrie, die nahezu unkontrolliert ihr Unwesen treibt. Hotelketten und Reiseunternehmen haben diese Branche gemeinsam in der Hand. Und in den seltensten Fällen gibt es ein Ministerium für Tourismus, das die Landschaftsveränderungen überwacht und die Menschenmassen lenkt oder bremst.
Welcher touristische Schauplatz kommt Ihnen da zuerst in den Sinn?
Die Vereinigten Arabischen Emirate.
Erzählen Sie!
In Dubai existieren Megahotels von nicht zu überbietendem Luxus in Kunstlandschaften, die ins Meer hinaus gebaut werden, mit als Palmen getarnten Mobilfunkmasten, mit einer täglichen Produktion von 30 Tonnen Kunstschnee in einem abgeschlossenen Ski-Center. Die eigentliche Welt wird ausgeblendet. Und gleich nebenan wird die Gewalt gegen Frauen toleriert. Auspeitschen existiert als offizielle Strafe, und unter den Arbeitern herrscht bittere Armut.
Und was ist mit jenen Regionen, von denen es heißt „sie leben vom Tourismus“?
Es gibt Ausnahmen. Bhutan und Costa Rica sind da zu nennen, sie kontrollieren die Invasion. Aber in den meisten Fällen werden die Gewinne zwischen wenigen Auserwählten aufgeteilt, die gar nicht selbst im Reiseland leben. Es hält sich hartnäckig das Klischee, dass sich das Leben der Arbeiter automatisch verbessere, wenn sie eine Stelle in der Tourismusbranche ergattern. Dabei sind viel zu viele Angestellte, vor allem in den so genannten Entwicklungsländern, Lohnsklaven, die sich eine traurige Existenz zusammenkratzen.
Konnten Sie mit einem Lohnsklaven reden?
Ja, in einem 5000-Betten-Hotel in Thailand. Es war mir eigentlich verboten, aber da ich einen Übersetzer bei mir hatte, konnte ich ein Zimmermädchen im Gang ansprechen. Sie erzählte, dass man von ihr verlangt hatte, erst einen Monat umsonst zu arbeiten, bevor sie den Job bekam. Ihr Gehalt betrug etwa 25 Euro im Monat. Sie war 15 Jahre alt und von Heimweh geplagt. Mädchen wie sie sind natürlich gefährdet, in die Falle des Sex-Tourismus zu geraten. Ihr trauriges Gesicht sehe ich noch immer vor mir. Wir sind empört und überrascht, dabei setzen wir selbst diese Prozesse in Gang.
Worin genau liegt unsere Schuld?
Wenn wir immer noch billigere Ferien verlangen, dürfen wir uns nicht wundern, dass am Ferienort gespart wird. Es hat mir fast das Herz gebrochen, zu sehen, unter welchen Bedingungen die Arbeiter im mexikanischen Ferienort Cancún leben mussten. Unser Wunsch nach billiger Wintersonne führt unweigerlich zu niedrigen Löhnen von Kellnern, Zimmermädchen, Gärtnern, Taxifahrern und anderen Bediensteten, die unseren Urlaub erst ermöglichen. Und wir schauen weg, denn wir wollen uns erholen. Wir haben hart für unsere zwei Wochen in der Sonne gearbeitet. Und wir sind nicht in den Urlaub gefahren, um uns Sorgen zu machen.
Was für die Menschen gilt, gilt ja auch für die Behandlung der Natur und ihrer Ressourcen …
… ja, eine Mischung aus politischer Unfähigkeit und bauunternehmerischer Gier scheint dazu zu führen, dass an den Ressourcen der Welt immer wieder der gleiche Raubbau betrieben wird. Die Wasserversorgung etwa war an allen Orten, die ich besuchte, ein Problem.
Es gab also nichts zu lachen auf Ihrer Tour um den Erdball?
Nun – am Berg Athos konnte ich zumindest schmunzeln: Seit 1971 haben dort die griechisch-orthodoxen Mönche in ihrem Gebetbuch ein neues Gebet: „Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, hab› Erbarmen mit unseren heiligen Klöstern, die gegeißelt sind vom weltlichen Tourismus. Schenke uns eine Lösung und beschütze unsere Brüder, die schmerzlich ermüdet sind von dem modernistischen Geist dieser westlichen Eindringlinge.“
Überall gehen die Zahlen in der Tourismusbranche nach oben. 2006 waren 840 Millionen Urlauber unterwegs, 2010 soll die Milliardengrenze überschritten werden. Ist ein Zusammenbruch überhaupt noch zu vermeiden?
Das Wachstum führt, man sollte es nicht glauben, auch in dieser Industrie zum Nachdenken. Man fängt an, zu erkennen, dass die Gefahr besteht, genau jene Orte zu zerstören, von denen das Überleben der Industrie abhängt. Also das Bild vom Mann, der den Ast absägt, auf dem er sitzt.
Sind Sie auf neue Ideen gestoßen?
Ja, das Centre for Future Studies in England hat ein interessantes Modell vorgestellt für sensible Kulturschauplätze wie zum Beispiel Taj Mahal, Machu Picchu oder Venedig, die vor dem Zusammenbruch stehen. Eine Lotterie, über das Internet ausgeschrieben, würde das Besucherkontingent kontrollieren und gleichzeitig verhindern, dass nur Wohlhabende sich die Reise leisten können. Den Gewinnern würde dann erlaubt, entsprechend verschiedener Preisklassen und verfügbarer Zeiträume, den Ort zu besuchen.(Hickmans Frau ruft aus dem Hintergrund, sie erinnert ihn an die Uhrzeit.) Sorry, ich muss meine Sachen packen. Ich fahre aufs Festland.
Wohin geht´s?
Nach Italien. Ich stelle dort mein Buch vor.
Sie fahren mit dem Schlafwagen?
Selbstverständlich – eine wunderbare Art, dem Ziel näher zu kommen.
Na dann: Tschüss, Herr Hickman!
Und Tschüss!