Basel, 14.09.2010, akte/ Täglich werden über 100’000 Reisen ins Ausland unternommen. 40 Prozent von ihnen führen in Entwicklungländer. 2007 konnten diese annährend 300 Milliarden US Dollar an Tourismuseinnahmen verbuchen – das ist knapp dreimal mehr, als sie an offizieller Entwicklungshilfe erhielten.

Tourismus als der wichtigste freiwillige Geldtransfer von den Reichen zu den Armen?
Deshalb wird der Tourismus gern als der wichtigste freiwillige Transfer finanzieller Mittel von den Reichen zu den Armen bezeichnet, halten Jonathan Mitchell und Caroline Ashley eingangs zu ihrer neuen Studie über Tourismus und Armutsminderung fest. Die Auswirkungen des Tourismus auf Entwicklungsländer beschäftigten Ökonomen, Geographen, Anthropologen, Soziologen, Praktiker der Entwicklungszusammenarbeit und Kampagnenorganisationen seit dem Aufkommen des Massenferntourismus in den 1970er Jahren. Doch die reiche, längst nicht mehr überblickbare Anzahl von Studien gelange zu keinem Konsens, wie sich der Tourismus auf die Armut in Entwicklungsländern auswirke, sie zeuge vielmehr von einem Mangel an Verständnis der komplexen Zusammenhänge. Genau da setzen die beiden erfahrenen Tourismuswirtschaftswissenschaftler des britischen Overseas Development Institute (ODI) an, die selber in zahlreichen Fallstudien, unter anderem im Rahmen des Pro Poor Tourism-Programmes (PPT), wichtige Erkenntnisse erarbeitet und publiziert haben. Erklärtes Ziel des Buches ist, bestehende Forschungsresultate zum Tourismus bezüglich seiner Wirkung auf die Armutsminderung einzuordnen und damit Entscheidungsträgern im Tourismus griffigere Anleitung zu geben.
Nicht einfach ein Erfolgsrezept zur Überwindung der Armut
Tourismus sei keinesfalls einfach ein Erfolgsrezept zur Minderung der Armut in Entwicklungsländern, er könne aber in gewissen Destinationen eine wichtige Rolle dabei spielen – so der Grundtenor des Buches. Dabei entlarven Jonathan Mitchell und Caroline Ashley die Kurzschlüsse von Tourismuspromotoren wie der UN-Welttourismusorganisation mit ihrem Armutsbekämpfungsprogramm Sustainable Tourismus – Eliminating Poverty (ST-EP) ebenso wie des World Travel and Tourism Council (WTTC), die vorschnell Tourismus- und Wirtschaftswachstum mit ihren jeweiligen Indikatoren der volkwirtschaftlichen Entwicklung der Reduzierung der Armut gleichsetzen. Tourismuswachstum allein kann im Gegenteil durchaus auch die Armut fördern, wenn Bauern oder Fischer ihren Zugang zu den angestammten Einkommenszweigen verlieren und die Lebenshaltungskosten für die Einheimischen teurer werden ohne entsprechende Schaffung neuer Einkommensmöglichkeiten.
Gleichzeitig gehen die Autoren auch mit den TourismuskritikerInnen ins Gericht, die allzu grosszügig Devisenabflüsse (leakages) der Einnahmen vorort zusammenmischen mit Einnahmen zum Beispiel der internationalen Touroperators oder Fluglinien, die gar nie in der Destination ankommen, und etwelche soziokulturelle Veränderungen der Gesellschaft in den Gastländern vorschnell auf den Tourismus zurückführen, ohne weitere Einflüsse der Globalisierung im Auge zu halten. Auch andere, bislang viel zu wenig hinterfragte Annahmen der gängigen Tourismusdebatten werden aufs Korn genommen: So etwa die Löhne und Arbeitsbedingungen der Tourismusangestellten, die allgemein weltweit als unterdurchschnittlich gelten, in einigen Ländern und einigen internationalen Hotelkomplexen aber durchaus über dem landesweiten Durchschnitt liegen. Ebenso fallen je nach Destination die Qualifizierung der Angestellten mit Schulungsprogrammen und die Förderung der Kleinunternehmer und der Frauen im Tourismus, auch aus dem informellen Sektor, ins Gewicht.
Sehr kritisch beleuchten die beiden Autoren zudem die Programme zur Förderung des Gemeindetourismus (community based tourism), die, sehr oft von den Ambitionen der internationalen Geldgeber gelenkt, nicht auf nachhaltige Entwicklung der Dorfgemeinschaften ausgerichtet werden und deshalb nach Beendigung des internationalen Förderprogrammes häufig scheitern. Dabei bleibt der Effekt der Tourismusförderung zur Armutsreduzierung weit hinter den Resultaten zurück, die etwa ein gezieltes Förderungsprogramm mit der Schulung von Angestellten, der Beschaffungspolitik für einheimische Produkte sowie Massnahmen zum Schutz der Umwelt in einem Massentourismus-allinclusive-Resort haben kann.
Drei Wege zur differenzierten Betrachtung
Aus all den vielfältigen Ergebnissen von Recherchen auf Makro-Ebene bis hin zu Fallstudien von einzelnen Hotels oder Dorfgemeinschaften bemühen sich Jonathan Mitchell und Caroline Ashley, relevante Erkenntnisse und Indikatoren für die effektive Minderung der Armut der Menschen in Tourismusdestationen zu gewinnen. Dabei zeigen sie kritisch auf, welche Begriffe und Definitionen von Armut zugrunde gelegt werden, wie differenziert Tourismusentwicklungen in verschiedenen Orten angeschaut werden müssen und welche Forschungsfragen, welche Methodologie und Herangehensweise welche Resultate bringen können. Ihre Systematisierung der Heransgehensweisen ist im aktuellen "Forschungsdschungel" zu Tourismus, Entwicklung und Armut äusserst hilfreich.
Daraus entwickeln sie drei "Pathways", drei Herangehensweisen in Untersuchungen, die – sich jeweils ergänzend – letztlich die entscheidende Frage besser beantworten helfen sollen, wie der Tourismus effektiv zur Verminderung der Armut in den Destinationen beitragen kann: erstens die direkten Einnahmen (Arbeitsplätze und -konditionen, direkte Einnahmen aus Gebühren etwa für Parks und Leasing sowie Zuwendungen etc.); zweitens die indirekten Einnahmen aus der Schaffung von zusätzlichem Einkommen in der Belieferungskette aus Landwirtschaft, Fischerei, Handwerk, Transport und Bauwirtschaft etc.; drittens die dynamischen Effekte der Tourismusentwicklung mit Infrastrukturentwicklung, struktureller Entwicklung der gesamten Wirtschaft, Ausbildungsmöglichkeiten, Gesundheit und Sicherheit in der gesamten Destination etc.
Die direkten Implikationen würden insbesondere mit der Schaffung von Arbeitsplätzen wie etwa auch den Spenden an Tourismusprojekte von Entscheidungsträgern im Tourismus oft krass überschätzt, wobei hier die Regulierung allein schon der Arbeitsverhältnisse einen markanten Unterschied schaffen könne. Die indirekten sowie besonders die dynamischen Effekte könnten eine substantielle Verbesserung für die breite arme Bevölkerung in den Destinationen bringen, immer vorausgesetzt, dass Bauern und Fischer den Tourismussektor beliefern können, Handwerker und Baumaterialien für den Tourismus bereitstehen, Infrastrukturentwicklung auch der einheimischen Bevölkerung Fortschritt bringt (Strom in den Dörfern oder einfachere Wege an den Arbeitsplatz), kleine lokale Unternehmer Zugang zu Förderung (etwa günstigen Krediten) erhalten und Ausbildung auch für künftige Tourismusangestellte bereitgestellt wird.
Doch wo bleiben die griffigen Forderungen an die Entscheidungsträger aus Wirtschaft und Politik?
Welche Massnahmen von Politik und Unternehmen wo welche Resultate gezeitigt haben, zeigen Jonathan Mitchell und Caroline Asheley zwar anhand verschiedenster Fallbeispiele minutiös auf. Doch leider verpassen sie es, in dieser Fülle von verschiedensten Situationen die Forderungen an Entscheidungsträger aus Politik und Tourismuswirtschaft herauszuarbeiten. Klare Handlungsanweisungen für politische Entscheidungsträger wären doch das erklärte Ziel des Buches gewesen? Zudem weist ihre profunde Analyse die altbekannten Schwächen der ODI- und PPT-Studien auf, nicht angemessen auf die internationalen finanz- und handelspolitischen Rahmenbedingungen der Tourismusentwicklung einzugehen. Zwar zeigen die beiden Autoren etwa die Wichtigkeit von Steuereinnahmen auf; doch wenn Steuer- oder Investitionserleichterungen für internationale Anbieter im Rahmen von internationalen Abkommen zur Sprache kommen, verweisen sie ganz kurz auf Entscheide ausser Reichweite der Staaten – als würden auch solche Entscheide nicht von Verantwortlichen aus Staaten getroffen. Ebenso erhalten im vorliegenden Buch Entscheidungsträger aus der Branche, insbesondere auch multinational tätige Tour Operators, nicht ein angemessenes Gewicht für ihre Rolle bei der effektiven Minderung der Armut in Tourismusgebieten, etwa mit Massnahmen für sozial gerechte, umweltschonende Angebote und eine faire Ausgestaltung der Handelsbeziehungen, damit lokale Anbieter und Destinationen überhaupt mehr Einnahmen aus dem Tourismus erwirtschaften können. Da ist noch viel Raum für effektive Massnahmen zur Armutsreduzierung.
Weiter erstaunt, dass Jonathan Mitchell und Caroline Ashley, die doch die entwicklungspolitische Debatte zum Tourismus seit Jahren befruchten, den aktuell brennenden entwicklungspolitischen Fragen recht wenig Aufmerksamkeit schenken: So gehen sie mit keinem Wort spezifisch auf die Klimarevelanz des Tourismus ein bzw. auf die dringend erforderlichen Klimamassnahmen zum Schutz der gefährdeten Lokalbevölkerung in Tourismusgebieten, was doch heute bezüglich Armutsreduzierung in Tourismusdestinationen äusserst relevant wäre. Kein Wort verlieren sie weiter zur Ernährungssicherheit in Tourismusgebieten, ausgerechnet auch dann nicht, wenn die Förderung der Produktion von Nahrungsmitteln für den Tourismus und die entsprechende Gestaltung der Belieferungskette im Tourismus als besonders wirksames Mittel zur Armutreduzierung gepriesen wird. Vermutlich hätten einige aktuelle Fallstudien von Tourismusforschungen aus Entwicklungsländern oder von Kampagnenorganisationen, selbst wenn diese nicht streng wissenschaftlichen Kriterien genügen, hierzu Licht in die Analysen der Wissenschaftler bringen können. Doch in der Bibiliographie der neuen Studie fehlen solche Referenzen weitgehend.
Mit all dieser Kritik im Handgepäck gehört die neue Publikation von Jonathan Mitchell und Caroline Ashley dennoch zur Grundausstattung aller, die sich für eine nachhaltige Entwicklung des Tourismus zu Gunsten der Benachteiligten und Armen in den Tourismusdestinationen engagieren wollen.

Jonathan Mitchell and Caroline Ashley: Tourism and Poverty Reduction. Pathways to Prosperity. Overseas Development Institute (ODI), Earthscan London 2010, 157 Seiten, £ 22.99, SFr. 49.-; ISBN 978-1-84407-889-9