Basel, 20.09.2012, akte/ Nach der blutigen Herrschaft der roten Khmer und jahrzehntelangen bewaffneten Auseinandersetzungen ist Kambodscha zur Ruhe gekommen; die Besucherzahlen nehmen ständig zu. Jährlich strömen über zwei Millionen Reisende in das südostasiatische Land. Viele von ihnen haben den Wunsch, mit der Bevölkerung in Kontakt zu kommen und einen Beitrag zur Entwicklung und zur Verbesserung der sozialen Situation des gebeutelten Landes zu leisten. Besonders beliebt sind Kurzeinsätze in Schulen und Waisenhäusern, die internationalen Vermittlungsagenturen angeboten werden. Doch immer wieder werden Vorwürfe laut, dass gutmeinende Reisende, die ihren Urlaub mit einem Besuch oder Freiwilligeneinsatz in einem Kinderheim verbinden wollen, zur Ausbeutung von Kindern beitragen und dass ein grosser Teil des Geldes, das sie vermeintlich guten Zwecken zukommen lassen, dieses Ziel nicht erreicht.
Reporterin Juliana Ruhfus und Filmemacher Matt Haan von Al Jazeera English recherchierten vor Ort, um herauszufinden, ob Freiwilligeneinsätze in kambodschanischen Heimen einen sinnvollen Beitrag zur Verbesserung der Lebensumstände der Kinder leisten oder eher ein lukratives Geschäft für die Vermittlungsagenturen und die Betreiber der Heime sind. Dabei stiessen sie auf verschiedene Missstände und fragwürdige Praktiken.
Zwar haben sich in den letzten Jahren die Lebensumstände vieler kambodschanischer Familien etwas verbessert. Dennoch überlassen viele wirtschaftlich benachteiligte Eltern ihre Kinder einem Heim – geködert vom Versprechen, dass ihr Nachwuchs dort kostenlos Fremdsprachenunterricht, eine westliche Bildung, die bestmögliche Förderung und somit bessere Zukunftschancen erhält. So hat sich die Zahl der Kinder, die in Waisenhäusern aufwächst, während des letzten Jahrzehnts mehr als verdoppelt. Es wird angenommen, dass über 70 Prozent der schätzungsweise 10’000 "Waisen" zumindest einen lebenden Elternteil haben.

Ständiger Wechsel von Freiwilligen belastet Kinder emotional

Die Reportage erzählt von einem Waisenhaus, in dem wöchentlich neue Gruppen von OberstufenschülerInnen aus verschiedenen Ländern eintreffen. Sie beteiligen sich an Renovationsarbeiten beschäftigen sich mit den Kindern. Eine feste Tagesstruktur ist nicht erkennbar; die Kinder scheinen sich nicht einmal für kurze Zeit auf eine Aktivität konzentrieren zu können. Viele klammern sich an die Fremden, heischen nach ihrer Aufmerksamkeit und Zuneigung, um sie kurz darauf unvermittelt zurückzuweisen. Täglich finden mehrere Veranstaltungen für TouristInnen statt, die das Heim besuchen. Die Veranstalter von Heimbesuchen und Kurzeinsätzen werden nicht müde darauf hinzuweisen, wie froh die kambodschanische Bevölkerung über den Besuch solcher Gruppen ist. Dass die Kinder, die sich dauernd an neue Bezugspersonen gewöhnen müssen, dabei emotional auf der Strecke bleiben, scheint für sie kein Thema zu sein.
Die Buchungsgebühren für Freiwilligeneinsätze beinhalten oft satte Spenden, von denen niemand so genau weiss, wem sie letzten Endes zu Gute kommen. Verschiedenen Berichten zufolge hat die Aussicht auf das Geschäft mit solchen Beiträgen und weiteren, vor Ort getätigten Spenden skrupellose Geschäftsleute veranlasst, Kinderheime zu eröffnen. Im Film berichten zwei junge Männer, wie sie als Kinder von ihren Eltern getrennt wurden und in einem Waisenhaus aufwuchsen, dessen Leiter die Kinder regelmässig schlug und zwang, auf die Gefühlsdrüse zu drücken, um die BesucherInnen zum Spenden zu animieren. Das Heim wurde mittlerweile geschlossen, weil der Leiter Geld unterschlagen hatte. Doch das Trauma der ehemaligen Zöglinge bleibt zurück. Viele haben es nicht geschafft, Arbeit zu finden und ein soziales Netz aufzubauen, einige sind drogensüchtig oder haben psychische und gesundheitliche Probleme.
Das grosse Geschäft machen jedoch nicht die lokalen Betreiber von Kinderheimen. Verschiedene internationale Freiwilligenvermittlungen sahnen kräftig ab. Eine Australierin, die bereits zum dritten Mal einen Einsatz in einem kambodschanischen Waisenhaus leistete, fand heraus, dass das Heim, an das sie von Projects Abroad, einer weltweit führenden Vermittlungsagentur, entsandt wurde, nur neun US-Dollar pro "Voluntourist" und Woche erhielt, während die Freiwilligen für einen einmonatigen Aufenthalt Gebühren von ungefähr 3’000 US-Dollar hinblätterten.

Ungenügender Schutz vor sexuellen Übergriffen

Kambodscha ist leider auch ein beliebtes Reiseziel für Kindersex-Touristen. Ein Vertreter der kambodschanischen Kinderschutzorganisation Action pour les Enfants erzählt dem Journalistenteam, dass viele Heime Freiwillige beschäftigen, ohne ihren Hintergrund zu prüfen. Sie hat den Fall eines von der international tätigen Freiwilligenvermittlungsorganisation Projects Abroad platzierten Amerikaners dokumentiert, der mindestens ein Kind mehrmals sexuell missbraucht hat. Ein britischer Staatsbürger habe gar selbst ein Kinderheim eröffnet und dort verschiedene Jungen missbraucht.
Die Nichtregierungsorganisation South East Asia Investigations into Social and Humanitarian Activities (SISHA), die sich für den Schutz kambodschanischer Kinder vor sexueller und anderen Formen der Ausbeutung einsetzt, wies das Filmteam auf ein Waisenhaus namens CUCO (Children’s Umbrella Centre Organization) hin. Nachdem SISHA von verschiedenen ehemaligen Freiwilligen auf grobe Missstände aufmerksam gemacht worden war, forderte sie die kambodschanische Regierung auf, die Vorwürfe zu untersuchen. Die zuständige Behörde führte im November 2011 und im Januar 2012 Inspektionen durch, bei denen erhebliche Mängel zutage traten, und drohte, das Heim zu schliessen.
Die Al Jazeera-Reporter Ruhfus und Haan besuchten CUCO und gaben an, als Freiwillige arbeiten zu wollen. Mit versteckter Kamera halten sie fest, wie der Heimleiter sie empfängt und sogleich einstellt und die Kinder unterrichten lässt, ohne irgendwelche Dokumente zu verlangen oder nach ihrer Erfahrung und Motivation zu fragen. Im Hof ist ein offener Abwasserkanal zu sehen, in der Decke von einem der Schlafräume klafft ein riesiges Loch, auf vielen Betten hat es keine Matratzen. Wie der Leiter selbst zugibt, werden die Kinder nicht ausreichend ernährt. Ruhfus und Haan schlagen dem Heimleiter vor, einige Kinder auf einen Ausflug mitzunehmen. Obwohl es in Kambodscha erschreckend viele Fälle von Kindesmissbrauch gibt, lässt er die Kinder in Reih und Glied antreten und fordert die beiden auf, einige davon auszusuchen. Sie fahren mit vier Kindern davon. Der Heimleiter hat sie weder nach dem Ziel und Zweck des Ausflugs gefragt noch nach irgendeinem Ausweis oder einer Adresse.
Obwohl Projects Abroad verschiedene Klagen ehemaliger Freiwilliger erhalten hat und von den Beanstandungen seitens der Behörden Kenntnis hat, trifft das Team auf einen frisch von Projects Abroad entsandten holländischen Freiwilligen. Er gibt an, dass das Anmeldungsverfahren keine Sicherheitsüberprüfung beinhaltete. Projects Abroad ist führende Anbieterin von Freiwilligenarbeit und Praktika weltweit. Sie ist in 15 Herkunftsländern von "Voluntouristen" vertreten und gibt an, jährlich gegen 8’000 Freiwillige in Projekte in 30 Ländern zu entsenden. 2010 erzielte sie laut ihrem Jahresbericht einen Umsatz von 24 Millionen US-Dollar und über 3 Millionen US-Dollar Gewinn.

Kinder sind keine Touristenattraktionen

Die kambodschanische Regierung hat 2011 die Kampagne "Kinder sind keine Touristenattraktionen" lanciert und angekündigt, gegen Waisenhäuser vorzugehen, die sich nicht an die gesetzlichen Vorgaben halten. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF hält fest, dass der "Waisenhaustourismus" und die damit verbundene Zunahme von Kindern, die in Heimen aufwachsen, das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes verletzt.
Ruhfus und Haan sind überzeugt, dass gut qualifizierte Fachkräfte Kambodscha durchaus einen Nutzen bringen könnten, und erwähnen in ihrem Bericht auch ein positives Beispiel: The People’s Improvement Organisation arbeitet mit freiwilligen LehrerInnen mit entsprechender Ausbildung und Berufspraxis zusammen. Sie vermitteln einheimischen PädagogInnen, die in einem Slum Kinder fördern, neue Unterrichtsmethoden und Konzepte. Diese Form von Engagement und Austausch wirkt nachhaltig. Doch leider handelt es sich dabei eher um eine löbliche Ausnahme. Die MacherInnen der Sendung raten allen, die einen Freiwilligeneinsatz in einem Waisenhaus oder einer Schule in Erwägung ziehen, zu gründlichen Nachforschungen.
Zu diesem Beitrag verlangte die deutsche Geschäftsstelle von Projects Abroad die Veröffentlichung einer Gegendarstellung: siehe unten bei Weitere fairunterwegs-Beiträge zum Thema: "Projects Abroad verlangt Gegendarstellung" – News vom 12. Oktober 2012.