Kein Wintermärchen
Eigentlich hätten wir Clara Sofia de Matos Carvalho im Tal unten treffen sollen. In Susten VS, wo sie wohnt. Doch am frühen Morgen bekam sie ein SMS: Sie müsse die Frühschicht übernehmen. Also fahren wir hoch nach Leukerbad, wo de Matos in einem Restaurant im Service arbeitet. Links und rechts türmt sich der Schnee meterhoch. Als wir Leukerbad erreichen, verziehen sich die letzten Wolkenreste und geben den Blick frei auf ein Winterwunderland wie aus dem Bilderbuch.
Viele Angestellte sehen das weniger märlihaft. Denn im Gastgewerbe bedeutet Winter für viele: Saisonarbeit und prekäre Arbeitsverhältnisse. Davon kann auch de Matos ein Lied singen. Seit vier Jahren ist die 27jährige Portugiesin in der Schweiz. Zuerst arbeitete sie als Zimmerfrau in einem Churer Hotel. Über eine Stelle in Genf fand sie vor zwei Jahren schliesslich ins Wallis und über das Office in den Service. Mit ihrer jetzigen Stelle ist sie zufrieden: Lohn, Arbeitsbedingungen sowie der Umgang des Chefs und seiner Frau mit dem Personal stimmen.
Doch ihre erste Stelle im Wallis hat de Matos in schlechter Erinnerung: Während der Wintersaison im Restaurant der Bergstation eines Skigebiets hatte sie kaum einen Tag frei. Nicht selten dauerten die Schichten von 7 Uhr morgens bis nach Mitternacht. Überstunden wurden nicht bezahlt. Den letzten Lohn blieb ihr der Chef schuldig. Für die übrigen drei Monate bekam sie 6’000 Franken. Nur sie und ihr Mann hätten Papiere gehabt, sagt de Matos. Alle anderen seien schwarz angestellt gewesen.
Viel Schwarzarbeit
Kein Einzelfall, sagt die zuständige Walliser Unia-Sekretärin Birgit Imboden: Im Saisonbetrieb werde immer wieder schwarz gearbeitet, bevor die Bewilligungen für die Kurzaufenthalte eintreffen. Sie kennt die Branche nicht nur aus ihrer über zehnjährigen Arbeit als Gewerkschaftssekretärin, sondern auch aus der Perspektive ihrer Klientinnen und Klienten: "Ich weiss, was es heisst, 220 bis 260 Stunden im Monat zu arbeiten", sagt die Deutsche. Denn sie arbeitete selbst im Gastgewerbe, als sie in die Schweiz kam.
Imboden kennt die Struktur der Branche mit rund 220’000 Beschäftigten. Über die Hälfte von ihnen haben keinen Schweizer Pass, sind weiblich und jünger als 40. Ferner bleibt jede fünfte Saisonarbeiterin weniger als sechs Monate im selben Betrieb. Mit vier Monaten Winter- und fünf Monaten Sommersaison gleicht die Branche sowieso einem Wanderzirkus. Für die Beschäftigten bedeutet das in der Regel: zweimal im Jahr eine neue Stelle suchen und sich zweimal kurz arbeitslos melden. Manchmal auch länger: Ist etwa die Wintersaison wegen Schneemangels kürzer, bedeutet das für viele die Kündigung.
2’500 Franken Brutto
Vielen Saisonarbeitenden stellt der Arbeitgeber die Unterkunft. Oft zu mehr als einfachen Verhältnissen und völlig überrissenen Preisen. Zum Beispiel in Zermatt. Eine Wohnung kann sich von den Angestellten niemand mehr leisten. Unia-Sekretärin Imboden kennt Betriebe, die zwei Personen in ein 18-Quadratmeter-Studio stecken und dafür 1’200 Franken kassieren. Mauro Moretto, bei der Unia für das Gastgewerbe zuständig, sagt, manche Betriebe versuchten, mit überhöhten Abzügen für Unterkunft den Lohn zu drücken.
Jetzt in der Krise müsse die Unia zwar genau darauf achten, dass sich die Lage nicht verschlechtere. Generell habe sich die Situation in den letzten Jahren jedoch deutlich verbessert, sagt Moretto. Vor allem, weil der seit 2010 geltende Gesamtarbeitsvertrag (GAV) die bessere Erfassung der Arbeitszeit ermöglicht. Das bestätigt Imboden. Trotzdem geht ihr die Arbeit nicht aus. Es gibt genug schwarze Schafe unter den Arbeitgebern.
Solche schwarzen Schafe hat Angela Thiele zur Genüge kennengelernt. Wir treffen die Rostockerin, als wir zurück im Tal sind. "Saisonstelle? Nie wieder!" sagt die 27jährige. Oft genug habe sie sechs, sieben Wochen zum Minimallohn durchgearbeitet. Sie sei extrem ausgenutzt worden. Und anderen ging es noch schlechter. Eine Kollegin habe in Leukerbad 2’500 Franken brutto verdient. Für Thiele ist klar: "Einzelne Arbeitgeber suchen gezielt Leute, die noch nie hier waren und nicht wissen, was ihnen in Sachen Lohn und Arbeitszeiten zusteht." Ihr war Saisonarbeit zu prekär: "Man kann sich auf nichts verlassen." Sie hat nun eine Stelle mit Jahresvertrag. In einem Betrieb, in dem sie sich wohl fühlt. Das sei auch für die Gäste wichtig. Denn die Deutsche mit Ausbildung zur Hotelfachfrau weiss: "Man merkt dem Personal an, wie es behandelt wird."
Dieser Beitrag wurde der work-Zeitung 04/2012 entnommen. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.
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