Kenia: Wie kann Wachstum Armut lindern?
Der Begriff Wirtschaftswachstum wird meist mit dem Anstieg des Bruttoinlandsproduktes gleichgesetzt. Würde man nur das Bruttoinlandsprodukt als Prüfmarke für Fortschritt nutzen, müsste man annehmen, dass jede Steigerung des Bruttoinlandsproduktes das allgemeine Wohlergehen verbessert. Das Mass, inwieweit Personen und verschiedene Bevölkerungsgruppen Anteil am Wohlstand eines Landes haben, ist ein anderer Indikator für ökonomisches und soziales Wohlergehen. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf dient als grobe Einschätzung des Anteils, den jeder Einzelne an der Marktwirtschaft hat. Doch in der Realität ist der Anteil mancher Menschen an der Wirtschaft grösser als der von anderen. Ausmass und Veränderungen der Ungleichheit bei Einkommensverteilung und Konsum sowie die Verbreitung von Armut können mit dem Bruttoinlandsprodukt nicht abgebildet werden.
Die vorherrschende Orientierung auf das Bruttoinlandsprodukt wird deshalb inzwischen weltweit von vielen Akteuren hinterfragt und angefochten. In der Zivilgesellschaft ebenso wie auf politischer Ebene, in zahlreichen Wirtschaftsinstituten und der Wissenschaft. Die Frage, wie das Bruttoinlandsprodukt interpretiert und genutzt werden soll, speist zahlreiche Debatten auch im Rahmen von mächtigen wirtschaftlichen Institutionen wie der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung), der EU oder der Weltbank. Somit scheint es nicht mehr plausibel, weiterhin an Wachstum als gesellschaftlichem Ziel per se und am Bruttoinlandsprodukt als Hauptbezugspunkt für Wirtschaftspolitik festzuhalten. Zahlreiche Alternativindikatoren wurden bereits vorgeschlagen.
Mit dem Millenniumentwicklungsziel, den Anteil der Bevölkerung zu halbieren, die mit weniger als einem Dollar am Tag lebt, fand das Konzept des „Pro-poor growth“ (armutslinderndes Wachstum) zunehmend Beachtung. Pro-poor growth meint vereinfacht gesagt ein Wirtschaftswachstum, das in höherem Masse die Armen einschliesst und weniger die Reichen. Für Kenia – wie für die meisten Länder in Sub- Sahara Afrika – kommt der landwirtschaftlichen Entwicklung dabei eine Schlüsselrolle zu. Sie hat eine besondere Bedeutung für die Erreichung der Millenniumentwicklungsziele Eins (Bekämpfung von extremer Armut und Hunger) und Sieben (Ökologische Nachhaltigkeit).
In Kenia ist die Landwirtschaft das Rückgrat der Wirtschaft. 26 Prozent des Bruttoinlandsproduktes werden in der Landwirtschaft erwirtschaftet und 60 Prozent der Exporterlöse stammen aus diesem Bereich. Durch Verflechtungen mit Handwerk, Handel und Dienstleistungssektor trägt die Landwirtschaft indirekt weitere 27 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei. 60 Prozent der Arbeitsplätze in Kenia sind in der Landwirtschaft. Drei Viertel der Arbeitskräfte in diesem Bereich sind Frauen. Die Mehrheit (80 Prozent) der armen Bevölkerung in Kenia lebt auf dem Land und hat ihre Existenzgrundlage insbesondere in der kleinbäuerlichen Landwirtschaft. Mit einer Ernährungsunsicherheit bei 51 Prozent der Bevölkerung ist die Landwirtschaft in Kenia zentral für die wirtschaftliche Entwicklung und die Armutslinderung. Somit ist eine verstärkte Investition in die Landwirtschaft in Kenia ein Motor für armutslinderndes Wachstum.
Wachstum mit Verteilungsgerechtigkeit ist gut für die Armen in Kenia – ein gangbarer Weg. Verbesserte Einkommensverteilung würde die Verbindung von Wachstum und Armutslinderung stärken. Die eigentliche Herausforderung besteht darin, Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen die Armen produzieren, der Armut entkommen und zur Mehrung des nationalen Wohlstands beitragen können. Voraussetzungen dafür sind beispielsweise verbesserte Marktzugänge, eine höhere Alphabetisierungsrate und eine bessere Gesundheitsversorgung für die Armen.
Wichtig ist die Erkenntnis, dass jede Kenianerin und jeder Kenianer eine Rolle bei der Überwindung von Armut spielt. Dies ist nicht nur Aufgabe der Regierung. Was jede und jeder einzelne von ihnen bei der Arbeit tut, ob angestellt oder selbstständig, hat eine Auswirkung auf das wirtschaftliche Wohlergehen des Landes.
Der Beitrag wurde der Publikation "Darf’s ein bisschen mehr sein? Von der Wachstumsgesellschaft und der Frage nach ihrer Überwindung" entnommen. Diese spannende Broschüre von EED und Brot für die Welt will im Anschluss an Studie "Zukunftsfähiges Deutschland" informieren, zum Stöbern einlanden und eine Herausforderung sein zum Nach-, Mit- und Querdenken. Wiedergabe des Beitrags mit freundlicher Genehmigung. Weitere Informationen zum Evangelischen Entwicklungsdienst EED in Bonn: www.eed.de