Klima auf Abwegen
Die Szenerie wirkt gespenstisch. Nebelschwaden ziehen über den Älplersee, eiskalte Föhnstösse zischen vom Lochbergpass her durch die Felsbrocken. Weit unten der Wasserspiegel des Göscheneralpsees. Dann bricht ein Sonnenstrahl durch die schwarzen Wolken, und am nahen Planggenstock glänzen die Eisenleitern. Sie führen zur wohl ergiebigsten Kristallader der Welt, dorthin, wo Franz von Arx im Jahr 2008 bereits die grösste Quarzstufe der Welt geborgen hat und wo er sich jetzt – millionenschwer, aber immer noch voll ungebremster Entdeckerlust- mit einem neuen, jungen Strahlerkollegen immer weiter in den Granit hineinsprengt.
Zwischen Geröll und Schutt taucht Beat Zgraggen auf. Der Umweltfachmann und technische Leiter der Urner Wanderwege wurde gerufen, weil von Arx nicht der Einzige ist, der sich hier in den Fels hineinsprengt. Mehr und mehr lösen sich auch ohne menschliches Zutun ganze Felsblöcke von den glatten Wänden, schleifen wie auf Riesenrutschbahnen hinunter und kommen dort zu stehen, wo ganz in der Nähe der Bergweg hinauf zur Lochberglücke verläuft. Zgraggen untersucht einen der Blöcke und seine Diagnose ist klar: Frostsprengung. "Das passiert, wenn Wasser in Felsritzen gerät und gefriert", erklärt er. Und: "Schnelle Wetterwechsel mit extremen Temperaturausschlägen beschleunigen diesen Prozess der Erosion." Genau das beobachtet er in den letzten Jahren immer häufiger.
Wenn Berge ins Rutschen kommen
Zum Beispiel an diesem Tag im September 2010, an dem er die Schadenstelle unter der Lochberglücke inspiziert. Drei Tage zuvor zeigte das Thermometer im Unterland noch 25 Grad an. "Wenn jetzt der Föhn zusammenbricht, haben wir hier innert zwölf Stunden einen Temperatursturz von gut und gerne 25 Grad", sagt er, während er auf der nahen Moräne den neuen Wegverlauf vermisst.
Beat Zgraggen ist überzeugt, dass er es hier mit einer Folge des Klimawandels zu tun hat. Auch die vielen, lokal massiven Wetterereignisse, die das Urnerland verstärkt heimsuche, deuten in diese Richtung. "Dieses Jahr haben wir sowohl am Klausen- als auch am Sustenpass und auf der Brüsti ob Attinghausen Wege sanieren müssen, die von schweren Gewitterregen unterspült worden sind", sagt er.
Unten im Muotathal pflichtet ihm der Geschäftsführer des Verbands Schwyzer Wanderwege, Emil Gwerder, bei. Auch er ist überzeugt, "dass sich der Klimawandel sehr stark auf die Wanderwege auswirkt." Die Häufigkeit und Intensität der Niederschläge habe in den letzten Jahren extrem zugenommen. Und in der folge würden vermehrt Wanderwege durch Hangrutsche Murgänge oder Steinschläge zugeschüttet, befürchtet er. Allein für das Jahr 2010 kann er sieben Ereignisse nennen, vom Rotstock auf der Rigi über Bärfallen ob Brunnen bis Fruttli in Muotathal. Wie hoch die Kosten sind, die daraus entstehen, kann niemand genau beziffern. Auch auf der Geschäftsstelle der Schweizer Wanderwege in Bern führt man darüber keine Statistik, wie auch solche ausserordentlichen Ereignisse nicht einzeln erhoben werden. Doch Emil Gwerder wagt eine Prognose: "Ich schätze, dass es in die Zehntausende von Franken geht – allein im Kanton Schwyz und nur in einem Jahr."
Nicht nur die Wege, sondern auch die Wegmarkierungen leiden unter den Launen des Wetters. Sie müssen alle drei bis fünf Jahre neu gemalt werden. Beat Zgraggen trägt darum immer ein offenes Werkzeugkistchen mit den Malutensilien auf den Berg. Sieht er eine abgewitterte Markierung, nimmt er den groben Borstenpinsel und betätigt sich erst mal als Felsenputzer. Nein, nicht zum Spass wie die Hobby-Felsenputzer aus der berühmten Filmkampagne von Schweiz Tourismus zum 1. April, sondern höchst professionell – um den Stein von Flechten und Verunreinigungen zu säubern. Als Nächstes kommt der Klappmeter zum Einsatz. "Eigentlich sind die Masse einer Markierung genau reglementiert", weiss Beat Zgraggen; auch alle anderen Details zur Planung, zum Bau und zur Signalisation der Wanderwege stehen im Handbuch, das exakt vermerkt: "Jede Bestätigungsmarkierung sollte nicht breiter als 15 cm und nicht länger als 20 cm sein." Als klar, jetzt kann das Malen beginnen. "Für Granitfelsen eignet sich Acrylfarbe am besten", verrät der Künstler, "bei Kalk nehme ich dagegen eher eine mit Wasser verdünnbare Emailfarbe."
500 Stunden Malarbeit, Jahr für Jahr
Insgesamt dauert die Revision einer einzigen Wegmarkierung gut und gerne zehn Minuten. Nun durchzieht aber allein den Kanton Uri ein Wander- und Bergwegnetz von 1’500 Kilometer Länge. Geht man davon aus, dass im Durchschnitt alle zweihundert Meter eine Wegmarkierung zu malen ist, kommt man auf rund 500 Stunden Malarbeit, die Jahr für Jahr in den Urner Bergen zu leisten ist. Deshalb arbeitet Beat Zgraggen mit zwanzig lokalen Mitarbeitern zusammen, die jeweils für ein Gemeindegebiet zuständig sind. Er selbst leitet die grösseren Reparatur- und Unterhaltsprojekte und ist für Neubeschilderungen zuständig. Da und dort realisiert er auch mal eine Wegverschönerung – zum Beispiel wenn am Klausenpass ein Wegstück von der Asphaltstrasse weg verlegt wird; oder wenn im Auftrag der Stiftung für Landschaftsschutz im Meiental alte Holzzäune wiederhergestellt werden. Eine wichtige Aufgabe ist auch die Lawinensicherung. "Gerade im Frühling kann es passieren, dass wir sogar Talwege sperren müssen, weil in einer schattigen Runse noch zu viel Schnee liegt", sagt Beat Zgraggen. "Da kommt es schon mal vor, dass Wanderer aus dem blühenden Unterland mit Unverständnis reagieren. Sie setzen sich über die Sperrung hinweg und müssen später doch umkehren." Schneeräumungen nehmen Beat und sine Team nur bei sehr stark begangenen Routen vor. Man möchte nicht den Eindruck vermitteln, die Bergwelt sei ein täglich aufgeräumter und geputzter Freizeitpark. "Vor allem im Frühling und auf höher gelegenen Routen sind feste Bergschuhe, ein Pickel sowie Grundkenntnisse in Alpintechnik gute Begleiter. Zehn Meter harter Firnschnee genügen manchmal, um aus einer an sich einfachen Wanderung eine Bergtour zu machen", sagt Beat Zgraggen. Und solche Verhältnisse kann man -Klimawandel hin oder her – während der ganzen Wandersaison im Gebirge antreffen.
Alle Infos zum Verband Schweizer Wanderwege: www.wandern.ch
Dieser Beitrag ist dem Transa-Kundenmagazin 4-Seasons Frühling/Sommer 2011 entnommen. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.