Basel, 15.05.2011, akte/ Mit dem Übereinkommen zum Schutz des immateriellen Kulturgutes von 2003 hat die Frage, ob der Tourismus dem Schutz des Welterbes eher zu- oder abträglich ist, einen neuen Aspekt erhalten. vgl. Kurt Luger/Karlheinz Wöhler (Hg.): Welterbe und Tourismus. Geschützt werden sollen nun nicht mehr nur bedeutungsvolle Bauten oder Landschaften, sondern auch "Praktiken, Darbietungen, Ausdrucksformen, Kenntnisse und Fähigkeiten – sowie die damit verbundenen Instrumente, Objekte, Artefakte und Kulturräume […], die Gemeinschaften, Gruppen und gegebenenfalls Individuen als Bestandteil ihres Kulturerbes ansehen. 

Der Schutz des Authentischen als Flucht vor der Standardisierung

Beim materiellen Welterbe, das seit 1976 unter Schutz steht, waren es weitgehend Fachleute, die bestimmten, was weshalb geschützt wird. Beim immateriellen Erbe stehen als Träger dieses Erbes die Gemeinschaften, Gruppen und Individuen im Zentrum. Nur was sie als Erbe betrachten und schützen wollen, kann geschützt werden. Das birgt neue Konfliktfelder: Wer ist legitimer Erbe? Wovon? Wer gibt dieses Erbe weiter? Und wie? –Im Zentrum dieser Auseinandersetzungen stehen Begriffe wie Tradition, Ritual, Inszenierung und Authentizität. Die Herausgeber von "Kulturelles Erbe und Tourismus", eröffnen die Sammlung der Beiträge von Frauen und Männern aus Forschung und Praxis – TouristikerInnen und KulturvermittlerInnen – mit der Klärung der genannten Begriffe. Sie erörtern, weshalb wir überhaupt immaterielle Kultur schützen und bewahren wollen. Ist die Bewahrung kultureller Wurzeln in einer globalisierten Welt ein Eskapismus, der uns die weitere Standardisierung im Rahmen der kapitalistischen Gewinnmaximierung besser aushalten lässt? Oder führt die Sehnsucht nach dem (scheinbar) noch ganzheitlich Verbundenen zu einem Widerstand gegen die drohende Eindimensionalität? Dabei arbeiten sie Widersprüche heraus: Geschützt werden Elemente lokaler Gemeinschaften, die ein in sich abgeschlossenes System bildeten und daher ihre kulturellen Besonderheiten und Bedeutungen entwickeln konnten, von den Instanzen einer Welt, in der verallgemeinerte Werte gelten – die Unesco weltweit, Ministerien und Bundesämter in den einzelnen Vertragsstaaten. Sie definieren die Legitimität des Erbes mit, etwa indem sie klären, ob bei einem bestimmten Brauch Kinder- oder Frauenrechte, oder auch Tierschutz- und Hygienevorschriften, Umweltschutzreglemente usw. eingehalten werden.

Schutz und Inwertsetzung von kulturellem Erbe in der Praxis

Die EinwohnerInnen des "Steirischen Vulkanlandes", einer abgelegenen Region im Südosten von Österreich hatten den Glauben an die Möglichkeit einer eigenständigen Entwicklung aufgegeben und warteten auf einen Investor von aussen, der mit einem Grossprojekt Arbeitsplätze schaffen und die Abwanderung verhindern sollte. Mit der Besinnung auf die gemeinsamen Wurzeln erwachte ein neues Selbstbewusstsein. Die Leute wurden unternehmerisch und kreativ. Teil der neuen Inwertsetzung der Region war der Tourismus. Aber nur als "wertvolle Sahne, nie als Eier legende Wollmilchsau", beschreibt Josef Ober, Abgeordneter zum Steiermärkischen Landtag, "Vulkanlandobmann, Visionär und Motor des Steirischen Vulkanlandes": "Wir bündelten Betriebe aus der Landwirtschaft, dem Gewerbe, dem Tourismus, dem Handel und dem Dienstleistungsbereich in dem neuen Sammelbegriff ‚Regionalwirtschaft’."
Dem gelingenden Beispiel stehen andere gegenüber: Schwimmende Märkte sind in Thailand zur Ikone des Tourismus geworden, mit malerischen Einbäumen voller exotischer Früchte und Gemüse, die von lächelnden Frauen in besonderen gewobenen Hüten mit energischen Bewegungen durch die engen Kanäle manövriert werden. Während Jahrzehnten mussten Reisende, welche dieses Spektakel miterleben wollten, vor Sonnenaufgang aufstehen. Die Bewohner von Amphawa beschlossen, den schwimmenden Markt als kulturelles Erbe in Wert zu setzen. Sie boten den schwimmenden Markt abends an. Es wurde ein Hit: Scharen von Besuchern vorab aus Bangkok flanieren an den Wochenenden entlang dem Kanal und in den Seitenstrassen. Praktisch jedes Haus dort gehört jetzt einem Auswärtigen Investor und wurde in einen touristischen Betrieb verwandelt. Die alten Bewohner wurden vertrieben. Das Sortiment des schwimmenden Marktes ist überregional geworden und enthält jetzt auch T-Shirts und sonstige Kinkerlitzchen. Die Inwertsetzung des kulturellen Erbes durch den Tourismus hat dieses weitgehend entfremdet und seiner Authentizität beraubt.

Die Sicht der kulturellen Erben

Die touristische Marktlogik und das Interesse der Bewahrung des authentischen kulturellen Erbes müssten eben in Balance gebracht werden, so die immer wieder von den Autoren proklamierte Lösung, und der Tourismus nachhaltig sein. 
Aber obwohl im Zentrum der Bewahrung des kulturellen Erbes deren Träger stehen, kommt im vorliegenden Sammelband nur einer von ihnen zu Wort (Josef Obmann). Ein, zwei Erzählungen mehr, wie die betroffene Lokalbevölkerung die Entdeckung, Listung und Inwertsetzung ihres kulturellen Erbes erlebt hat, hätten die spannenden, relevanten Beiträge der Fachleute um die wichtige Innensicht bereichert.
Kurt Luger, Karlheinz Wöhler (Hg.): Kulturelles Erbe und Tourismus. Rituale, Traditionen, Inszenierungen. StudienVerlag Innsbruck, 2010, 416 Seiten, SFr. 70.90, Euro 49.90, ISBN 978-3-7065-4965-3