Tourismusspekulanten schicken in Tatajuba ihre Schlägertrupps aus
Am 21. Februar 2006 erhielt Raimundo Ferreira da Silva, Fischer und Bauer aus Tatajuba – eine Ortschaft an der Küste des Bundesstaates Ceará im Nordosten Brasiliens, die für ihre einmalige Dünenlandschaft bekannt ist – Besuch von mehreren zwielichtigen Herren. Diese gaben sich als Polizisten aus und forderten in barsch auf, den Zaun um sein Grundstück zu entfernen. Als er nicht gleich Folge leistete, prügelten sie ihn mit einem Schlagstock nieder, rissen den Zaun ein, zerstörten die Pflanzungen und bedrohten ihn schliesslich unter vorgehaltener Waffe mit dem Tode. Die Schlägertypen waren in einem weissen Toyota gekommen, welcher der Firma Vitória Regina gehört. Die gewaltsame Aktion wurde von Claudiomar Cândido Dias gleitet, der in Tatajuba wohnt und bei Vitória Regina angestellt ist.
Hinter dem gewaltsamen Vorfall in Tatajuba scheint die ewig gleiche Geschichte der Immobilienspekulanten an den Küsten Brasiliens auf: Sie schicken ihre grileiros, ihre Spezialisten für Dokumentenfälschung und Männer fürs Grobe vor, welche die Bevölkerung massiv einschüchtern, um sich für grossspurige Tourismuspläne Ländereien anzueignen, die bisher nicht durch klare Landrechtstitel geregelt waren. Tatajuba mit seinen einmaligen malerischen Wanderdünen, Mangrovenwäldern und bis weit ins Landesinnere reichenden Meeresarmen ist dabei besonders exponiert: Die Gesellschaft Vitória Regina erhebt in diesem Gebiet Anspruch auf 5’275 Hektaren Land, auf dem sie einen riesigen Tourismuskomplex errichten will.
Das Land wird aber seit über hundert Jahren von gut 100 Familien bewohnt und bewirtschaftet. Bereits Ende der 90er Jahre haben sich deshalb rund 700 EinwohnerInnen des Dorfes Tatajuba zu einer Interessengemeinschaft zusammengeschlossen, um für das Land zu kämpfen, aber auch neue Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen, dabei die einmalige Umwelt zu erhalten und ihre Kultur zu pflegen. 2001 legten sie vor Gericht Einspruch gegen die Gültigkeit der Dokumente von Vitória Regina vor. Damit wollten sie aktiv vorbeugen, das selbe Schicksal erleiden zu müssen wie die Menschen in Jericoacoara oder weiter südlich in Canoa Quebrada und anderen mittlerweile vom Tourismus überlaufenen Küstendörfern Cearás. Des ungeachtet zäunte Vitória Regina jüngst auch Gebiete ein, die Ebbe und Flut unterliegen. Dagegen wehren sich die BewohnerInnen nun mit einem gezielten Vorstoss bei der Umweltschutzbehörde (IBAMA-CE), ein Schutzgebiet mit nachhaltiger Nutzung für die Einheimischen einzurichten, in dem sie nebst Artesanal-Fischerei, biologischer Landwirtschaft und Kunsthandwerk auch einen angepassten Tourismus betreiben könnten (siehe auch akte-Kurznachrichten 3/2003). Der brutale Angriff auf Raimundo Ferreira da Silva wird – so ist zu hoffen – ein Nachspiel haben: Zwei Tage nach dem gewaltsamen Überfall konnte er die Tatbestände bei der Polizei in Camocim zu Protokoll geben und seine Verletzungen von einem Arzt offiziell bestätigen lassen. Am 6. März 2006 wurde der Fall dem Staatsanwalt übergeben. /plus

Späte Genugtuung für die Gemeinschaft von Prainha do Canto Verde
Am 14. März 2006 traten vier Abgeordnete von Prainha do Canto Verde, einem kleinen Fischerdorf an der Küste des Bundesstaates Ceará im Nordosten Brasiliens, vor das Bundesgericht in Brasilia, um den vor Bundesgericht in letzter Instanz gefällten Entscheid in Sachen Prainha do Canto Verde gegen die Immobilienfirma Henrique Jorge SA entgegen zu nehmen. Fünf Stunden lang warteten sie geduldig im Vorraum, bis ihr Fall zur Verhandlung kam. Dann entschieden die fünf Bundesrichter in weniger als zehn Minuten einhellig zu ihren Gunsten und fällten damit in letztlich atemberaubender Geschwindigkeit ein historisches Urteil, das in einem 30-jährigen Kampf erstritten worden war.
Historisch ist das Urteil, weil erstmals in der Geschichte Brasiliens arme Fischerfamilien den Kampf gegen die Spekulanten und Immobilienhaie gewinnen, die entlang der 9’000 Kilometer langen Küste Brasiliens unrechtmässig und oft gewaltsam Terrain in Besitz zu nehmen versuchen, um gigantische Tourismusvorhaben zu realisieren und ausländische Kunden zum Kauf von prächtigen Luxusvillen zu locken. Allein entlang der 567 Kilometer Küste des Bundesstaates Ceará ist laut lokalen Gemeindeorganisationen beinahe alles Land samt den Dünen eingezäunt, obwohl die Landrechtstitel längst nicht geklärt sind. In über zehn Fischerdörfern wehrt sich derzeit die Bevölkerung gegen verschiedene Spekulanten.
Spät kommt die Genugtuung für die gut 1’000-köpfige Gemeinde Prainha do Canto Verde, weil sie seit 30 Jahren berechtigten Anspruch auf ihr Land erhebt. 1976 wähnten die EinwohnerInnen erst gar nichts Böses, als ein eleganter Herr im Namen von Henrique Jorge SA zwei Kilometer vom Strand entfernt Dünen zu kaufen begann. Doch 1984 erhielt der Spekulant den ganzen Landstrich von 749 Hektaren bis an den Strand durch einen richterlichen Beschluss  zugesprochen und offiziell auf seinen Namen registriert. Auf einen Schlag war die Fischergemeinde in ihrer Existenz bedroht. Über Jahre hinweg kämpfte sie mit Unterstützung von Nachbargemeinden und des Zentrums zur Verteidigung und Förderung der Menschenrechte in Fortaleza für ihre Rechte. Die Hilfe war bitter nötig, denn immer wieder übten von den Immobilienspekulanten angeheuerte Schlägertrupps rohe Gewalt gegen die DorfbewohnerInnen aus und steckten Zäune und ganze Häuser in Brand. Darüber berichteten in den 90er Jahren mehrfach auch westliche Medien, die von Solidaritätsorganisationen auf die Missstände aufmerksam gemacht worden waren (siehe akte-Kurznachrichten 3/1995 ff.) Erst Ende der 90er Jahre stiessen die EinwohnerInnen von Prainha do Canto Verde auf Gehör vor dem Obergericht von Ceará und konnten dann das Verfahren weiterziehen bis vor Bundesgericht.
Nichtsdestotrotz oder vielleicht gerade deswegen, meint rückblickend René Schärer, ein Schweizer, der sich seit über 15 Jahren für Gerechtigkeit in Prainha do Canto Verde einsetzt, habe die Gemeinde resolut den Weg einer nachhaltigen Entwicklung eingeschlagen, welcher der Artesanal-Fischerei Auftrieb gibt und durch einen bescheidenen angepassten Tourismus zusätzliche Einkommen erwirtschaftet. Dafür wurde die Tourismuskooperative von Prainha do Canto Verde auch mit dem TO DO!-Preis 1999 ausgezeichnet. /plus

Quellen: www.prainhadocantoverde.com.br; www.terramar.org.br; www.amigosprainha.org; Informationen von René Schärer 30.3./17.3./11.3.2006; eigene Recherchen