Landschaften prägen unser Empfinden, und unser Empfinden ebenso wie die Kultur der Gesellschaft, in der wir leben, prägen unsere Wahrnehmung der Landschaft. Was etwa ist eine "aufgeräumte" Landschaft? Und lassen sich Verbindungen finden zur "aufgeräumten" Stimmung? "Landschaften", schreiben die HerausgeberInnen, "lassen sich wie ein Buch lesen, das offenlegt, was in einem bestimmten Gebiet erzählt und erinnert werden darf und was gehört werden will. Landschaftslektüren geben Auskunft über das kollektive Gedächtnis der BewohnerInnen und die Erinnerungskulturen schreiben sich tief in die Landschaften ein."
Der schön gestaltete Band enthält künstlerische Beiträge, ebenso wie literarische, kulturwissenschaftliche oder historische Texte über "erzählte und erzählende Landschaften, schuldig gewordene, identitätsstiftende, konstruierte und transformierte Landschaften, durch Kindheitslandschaften, Wörterlandschaften, Grenzlandschaften und transitäre Landschaften".
Heilige und schuldig gewordene Lebensräume
Beispiele: Die Lebensgeschichten der BewohnerInnen der Villa Clementi im Dorf Tavernaro oberhalb von Trient sind über Generationen mit dem Haus und der Landschaft verbunden. – Als Otto von Freising zwischen 1157 und 1168 die Taten des Kaisers Friedrich Barbarossa niederschrieb, erfasste er mit den Erzählungen zugleich die Landschaft, in er etwa die Kämpfe um die Po-Städte ausgetragen wurde. Dabei wird die Erhabenheit des Protagonisten durch die Verortung heiliger oder biblischer Ereignisse in der Po-Ebene unterstrichen. – Die Entwicklung eines Kultortes wird anhand der Geschichte der Wallfahrtsorte der "heiligen drei Jungfrauen" von Meransen in Südtirol vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert nachgezeichnet. – In diesem 21. Jahrhundert wurde der Brennerpass eine wichtige Route für die Flüchtlinge. Und die Grenzen zwischen Österreich und Italien wurden plötzlich wieder wichtig und markierten den Widerspruch zwischen dem freien Warenverkehr und der blockierten Zirkulation von Menschen.
In Schwaz im Nordtirol, wo das Rüstungsunternehmen Messerschmitt-Kematen 1944 einen Teil seiner Luftwaffen produzierte, kamen Zwangsarbeiter zum Einsatz. Viele kamen bei ihrem Einsatz um und wurden irgendwo verscharrt. Die Landschaft verbirgt dort ein vages Gefühl der Schuld, wird selbst Komplizin des Täters, indem sie die Spuren des Verbrechens verbirgt. Bei Lienz im Osttirol starb eine unbestimmte Anzahl von Soldaten und Familienmitgliedern, die im Tross den Kosakenverbänden gefolgt waren und auf neue Siedlungsgebiete im Friaul gehofft hatten, durch Suizid  oder Gewaltanwendung durch britische Soldaten.
Mitschuldig ist auch das ländliche Tirol: Ende des 19. Jahrhunderts entstanden dort Kinderheime. Weit ab des angeblich verderblichen Einflusses der Städte sollten Kinder aus prekären Verhältnissen zu tüchtigen Hausfrauen und Arbeitern herangezogen werden – mit harter Hand. Die Mauern in der Schönheit und Abgeschiedenheit der Landschaft hatte eine pädagogische Funktion – an die sich die ZeitzeugInnen mit Grauen erinnern. – Landschaften waren gesellschaftliche Projektionsorte, wie der Briefwechsel zwischen einem Bozener Schriftsteller und dem Herausgeber illustriert, wo die Utopie eines naturnahen Landschaftsmenschentums entwickelt wird.
Im Band werden ausserdem Hotel-Räume, literarische, poetische, philosophische und Fantasieräume visuell und über die Sprache erkundet. Es ist eine tiefgründige, vielseitige Sammlung von Landschafts-Ansichten und Einsichten entstanden, die zu mehrfachen besinnlichen Auszeiten einlädt.
Markus Ender, Ingrid Fürhapter, Iris Kathan, Ulrich Leitner, Barbara Siller (Hg.): Landschaftslektüren. Lesarten des Raums von Tirol bis in die Po-Ebene. Transcript Verlag, Edition Kulturwissenschaft Bd. 109, Bielefeld 2017, 560 Seiten, EUR 34.99, ISBN 978-3-8376-3553-9