Im Mai legte die „Wachstumskommission“ der Weltbank den „Wachstumsreport“ vor. Sie distanziert sich darin von ihren entwicklungsökonomischen Vorstellungen, die als „Washington Consensus“ bekannt sind. So stellt der Report fest, es gebe für die wirtschaftliche Entwicklung keine Einheitsrezeptur, die auf alle Entwicklungsländer anwendbar wäre. Jedes Land müsse eigene Strategien entwickeln.

Die Weltbank-Kommission studierte 13 Länder, die nach 1950 während mindestens 25 Jahren ein Wirtschaftswachstum von über 7 Prozent erzielt hatten.¹  Trotz aller Unterschiede fand die Kommission einen Faktor, der allen gemeinsam ist: eine starke, an Wirtschaftswachstum interessierte politische Führung und ein aktiver Entwicklungsstaat. Dies im Unterschied zum Washington Consensus, dem es noch darum gegangen ist, die „Marktkräfte“ von „staatlicher Bevormundung“ zu befreien. Dem Report zufolge müsse die Rolle der Regierung, wie sie damals definiert worden sei, „neu überdacht“ werden. „Stabilisieren, privatisieren und liberalisieren“, die wirtschaftspolitische Vorschrift jener Zeit, definiere „die Rolle der Regierung zu eng. Dass Regierungen manchmal unbeholfen oder erratisch handelten, bedeutet nicht, dass man sie abschreiben soll.“
Die Erfolgsfaktoren
Die Regierungen der erfolgreichen Entwicklungsländer zeichneten sich durch grosse öffentliche Investitionen aus, vor allem in die Infrastruktur, die Bildung und das Gesundheitswesen. Sie seien keine „Marktpuristen“, sondern betrieben aktive Industriepolitik, managten die Wechselkurse oder benützten selektive Kapitalverkehrskontrollen. Sie hätten zudem nicht einfach auf Auslandinvestitionen gesetzt, sondern eigene hohe Spar- und Investitionsraten erzielt.

Der Report folgert, dass (starkes) Wachstum für die Reduktion der Armut wesentlich sei, dass politisch aber Chancengleichheit, die Förderung der Frauen und wirtschaftliche Sicherheit der Einzelnen gefördert werden müssten, um den Wachstumskurs zu unterstützen: Das Wachstum müsse „einschliessend“ gestaltet werden. Für die Wachstumspolitik brauche es Führung, Durchhaltewillen und Pragmatismus.

Diplomatischer Kompromiss
Der Report ist ein diplomatisches Kompromisswerk. Einige Fragen blieben kontrovers. So die industriepolitischen Fördermassnahmen oder die Kapitalverkehrskontrollen der erfolgreichen Länder Asiens. Letztere behandelt der Report allerdings leicht positiv – zumindest stellt er unmissverständlich fest, dass keines der untersuchten, erfolgreichen Länder seinen Kapitalmarkt von Anfang an geöffnet habe.

Die Kommission scheut sich auch, die drastische Veränderung der internationalen Wirtschaftsregeln zu behandeln, welche sich in ihrem Untersuchungszeitraum ergeben hat. Genossen die Entwicklungsländer bis 1980 einen relativ vorteilhaften, einseitigen Zugang zu den Märkten der Industrieländer und einen stark regulierten internationalen Kapitalmarkt, haben die Industrieländer mit der Welthandelsorganisation (WTO), und notabene der Weltbank, seither die Reziprozität des Marktzugangs und die weitgehende Deregulierung der Kapitalmärkte durchgesetzt.

Dass künftig auch afrikanische oder andere benachteiligte Länder eine nachholende Industrialisierung einleiten könnten, wird zwar behauptet, die beträchtlichen Hindernisse, die dem entgegenstehen, werden jedoch unterschlagen. Unerwähnt bleibt, dass viele der industriepolitischen Massnahmen, welche Korea, Taiwan, Brasilien oder China benutzten, heute durch die WTO-Verträge verboten sind. Deshalb unterlässt es die Kommission, die Forderung aller Entwicklungsländergruppen nach mehr wirtschaftspolitischem Spielraum (policy space) explizit zu unterstützen, obwohl ihre Resultate diese Forderung untermauern. Immerhin empfiehlt sie, den afrikanischen Ländern für eine begrenzte Periode einen präferentiellen Marktzugang zu gewähren, um ihre nachteilige Position gegenüber den asiatischen Konkurrenten auszugleichen.

Der Wachstumsreport treibt die Kritik am Washington Consensus weiter, die der ehemalige Chefökonom der Weltbank, Joseph Stiglitz, Ende der neunziger Jahre begonnen hatte. Stiglitz ist auf unsanften Druck der USA aus der Weltbank entfernt worden. Heute gibt Weltbankpräsident Robert Zoellick dem Bericht ausdrücklich seinen Segen.

Commission on Growth and Development: The Growth Report. Strategies for Sustained Growth and Inclusive Development. 2008. Siehe www.growthcommission.org
¹Botswana, Brasilien, China, Hongkong, Indonesien, Japan, Südkorea, Malaysia, Malta, Oman, Singapur, Taiwan und Thailand.
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Die Wachstumskommission der Weltbank
Die Commission on Growth and Development zählt 21 Mitglieder, darunter nur zwei Frauen. Die meisten sind wirtschaftspolitische Praktiker. Dreizehn stammen aus Lateinamerika, Afrika und Asien, vier aus Europa und Nordamerika. Dazu kommen zwei Weltbankvertreter und mit Robert Solow und Michael Spence zwei renommierte Mainstreamökonomen.
www.growthcommission.org
Dieser Beitrag erschien im der Ausgabe Sommer 2008 der Zeitschrift «Global» von AllianceSud, der Arbeitsgemeinscahft Swissaid, Fastenopfer, Brot für alle, Helvetas, Caritas und Heks www.alliancesud.ch; Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung
Bild: FreeFoto.com