«Langsam reisen, ist die Zukunft»
Kurz vor dem Interviewtermin bessert sich das Wetter, die Sonne scheint. Ich sitze am Treffpunkt in einem Restaurant an der Aare in Bern. Jon fährt mit seinem Fahrrad vor, begrüsst mich herzlich und bestellt ein Bier. Obwohl er viele Jahre in Biel gelebt hat und jetzt mit seiner Partnerin in Bern wohnt, ist er dem Bündner Dialekt treu geblieben. Seine Augen leuchten hinter seiner Brille, und ich spüre, dass er es kaum erwarten kann, über das Reisen zu reden.
Sabine Zaugg: Du hattest letzte Woche Ferien. Kann ich daraus schliessen, dass fairunterwegs prinzipiell nichts gegen Ferien hat?
Jon Andrea Florin: Im Gegenteil! Wir sind grosse Ferienfans. Wir sind auch Verfechter einer Work-Life-Balance: Die vier Wochen Ferien sollen nicht dazu dienen, all das nachzuholen, was man in den 48 Arbeitswochen verpasst hat.
SZ: Wo warst du?
JAF: Ich war zum ersten Mal im Leben auf dem Rütli, dem Gründungsort der Schweiz. Dort war ich noch nie, obwohl ich ein Stammbaumschweizer bin. Es ist cool, weil es so wahnsinnig schweizerisch ist: frei von jeglichem Glamour und Patriotismus. Es gibt nur eine kleine Gedenktafel und eine einfache Beiz. Bescheidener geht es fast nicht mehr.
SZ: Alle Welt sass während des Lockdowns zu Hause fest. Nun kommt das Reisen langsam wieder zurück. Denkst du, dass wir bald wieder reisen werden wie vor der Pandemie?
JAF: Das hängt vom Menschenbild ab. Optimisten sagen, wir haben etwas gelernt und wollen in Zukunft vernünftiger reisen, weniger fliegen und mehr zu Hause unterwegs sein. Pessimisten sagen, wir reisen bald wieder genau gleich wie vor der Pandemie. Ich gehöre eher zu den Pessimisten und vermute, wir werden zackig wieder auf dem Niveau von 2019 sein. Die Frage ist eher, ob das explosionsartige Wachstum des Reisens weitergeht. Das wäre schlecht.
SZ: Warum?
JAF: Da ist einerseits die Klimaerhitzung. Der weltweite Tourismus ist verantwortlich für rund acht Prozent der globalen Treibhausgas-Emissionen. Das ist nicht wenig. Das andere ist der Overtourismus: Venedig, Barcelona, Amsterdam leiden ja schon länger darunter. Es betrifft aber zunehmend auch kleinere Orte wie beispielsweise Interlaken oder Engelberg. Overtourismus schränkt die Lebensqualität der Einheimischen ein, treibt die Wohnungspreise in die Höhe oder blockiert wegen Airbnb und anderen Anbietern Wohnraum. Mit dem Tourismus reisen auch Viren. Das ist ein weiteres Risiko, wie wir gesehen haben. Der Tourismus führt aber auch dazu, dass einfache Arbeiter, zum Beispiel Fischer, ihren Beruf nicht mehr ausüben können, weil sie nicht mehr zum Strand können, da dort ein Resort steht.
SZ: Hast du ein Beispiel?
JAF: Kürzlich wurde bekannt, dass Indonesien den Tourismus massiv ausbauen will. So entsteht zum Beispiel auf der Bali-Nachbarinsel Lombok ein über 1000 Hektar grosses Megaresort mit allem erdenklichen Luxus und einer eigenen MotoGP-Rennstrecke. Menschenrechtsexperten sprechen von Zwangsenteignungen und Einschüchterungen gegenüber Einheimischen.
SZ: Die Pandemie hat die Tourismusbranche hart getroffen. Gibt es dank Corona auch positive Entwicklungen?
JAF: Ja, es wird zum Beispiel weniger Geschäftsreisen geben. Weil Geschäftsleute oftmals Businessclass fliegen und daher mehr Platz beanspruchen, sorgen sie für einen höheren CO₂-Ausstoss. Das Pendeln nimmt dank Homeoffice und Videokonferenzen ab. Die dritte positive Entwicklung ist die «Italienisierung» der Schweiz. Damit meine ich die zunehmende Ausbreitung des Lebens in den öffentlichen Raum. Die Menschen haben sich mehr Platz erobert. Wo früher Autos fuhren, sitzen heute Leute zusammen. Dieses Italiengefühl ist eine schöne Entwicklung im Sinne der Nachhaltigkeit.
SZ: Ohne Tourismus würden Millionen Menschen ihre Arbeitsplätze verlieren, was insbesondere in Entwicklungsländern für viele existenzbedrohend wäre. Kein Tourismus kann also nicht die Lösung sein. Was schlagt ihr vor?
JAF: Es braucht einen Tourismus, der viel stärker aus den Destinationen und den Gemeinschaften herauswächst. Es darf keine Monokultur mehr geben. Nachhaltiger Tourismus braucht Interaktion mit der lokalen Bevölkerung und mehr Rücksicht auf die lokalen Gegebenheiten. Am Beispiel Lombok wird klar, dass das kein nachhaltiger Tourismus sein kann. Eine weitere Lösung bietet die Zeit: Nehmen wir uns doch mehr Zeit! Mindestens zwei Wochen, um eine Gegend kennenzulernen. Und das Reisen muss wertvoller werden. Eine Woche Griechenland im Fünfsternehotel für 535 Franken inklusive Flug kann einfach nicht nachhaltig sein. Da zahlt jemand drauf: die Umwelt, das Klima und die einheimischen Arbeitskräfte.
SZ: Was macht fairunterwegs denn konkret?
JAF: Unsere Hauptaufgabe liegt darin, die Problematik des Reisens und gleichzeitig spannende Lösungen aufzuzeigen. Wenn du dein Reisebedürfnis ausleben und nachhaltig sein willst, ist ein Wochenendtrip in die Ferne vielleicht nicht das Richtige. Wir präsentieren dir intensive, erlebnisreiche, eigenständige Alternativen. Wir zeigen dir, wie du verantwortungsvoll reisen und dein Reisen in Einklang mit deinen Werten bringen kannst. Laut Studien würden ja zwei Drittel der Leute gerne verantwortungsbewusster reisen, machen es dann aber doch nicht.
SZ: Das liegt vermutlich daran, dass sie noch zu wenig darüber wissen. Hast du Tipps?
JAF: Wir empfehlen die vier Ls: langsam, lokal, lesen, Label. Langsam reisen ist klar: Zug statt Flugzeug, Fahrrad statt Zug, zu Fuss statt per Fahrrad. Du wirst jedes Mal mehr erleben. Bleib so lange an einem Ort, bis dir langweilig wird. Das Prinzip lokal meint, dass du in der Schweiz bleibst oder, wenn du im Ausland bist, lokal einkaufst und lokale Restaurants bevorzugst. Als Hotelgast erzeugst du siebenmal mehr Abwasser und Abfall. Lebe wie die Einheimischen. Mit Lesen meinen wir, dass du dich auf ein Land einstimmen solltest: Lies etwas darüber, lerne ein paar Worte. Und Labels sind Orientierungshilfen auf dem Weg zu nachhaltigen Tourismusangeboten.
SZ: Was sind das für Labels?
JAF: Es gibt rund 150 Nachhaltigkeitslabels. Das Problem ist, dass es noch kein Metalabel gibt, also noch keine übergeordnete Kennzeichnung ähnlich wie das Nachhaltigkeitsprogramm Swisstainable von Schweiz Tourismus. Auf unserer Webseite versuchen wir, Licht ins Dunkel zu bringen und die Labels übersichtlich aufzuführen. Können Reisebüros Nachhaltigkeit fördern? Ja, denn Reisebüros haben einen riesigen Trumpf in der Hand: Sie haben in ihren Buchungssystemen rund 3500 Hotels und Unterkünfte mit nachhaltigen Labels. Aber das weiss niemand. Und wo keine Nachfrage ist, gibt es auch kein Angebot. Die Reisebüros spielen diesen Vorteil noch nicht aus. Dabei wäre jetzt der Moment.
SZ: Nachhaltiger Tourismus als Chance. Kannst du uns von einem Beispiel erzählen, bei der eine ganze Gemeinde vom Tourismus profitiert?
JAF: Es gibt beispielsweise Fairbnb (siehe Info links). Ein gutes Beispiel ist das Uravu Resort in Kerala, Indien. Dort gibt es vier Cottages, die aus Naturmaterialien wie Bambus und Lehm gebaut worden sind. Das Resort wird im Einklang mit der Umwelt geführt und bindet die lokale Bevölkerung mit ein.
SZ: Was rätst du den Leuten, die jetzt vom Reisefieber gepackt werden: Ferien in der Schweiz? Oder ist es besser, nach Südamerika zu fliegen, weil die Menschen dort stärker auf Touristen angewiesen sind?
JAF: Wenn dich das Fernweh so plagt, dann geh ruhig nach Südamerika. Aber geh nicht für zwei Wochen, sondern bleibe vier. Und flieg nicht erst nach Mexiko und dann nach Costa Rica und weiter nach Peru, sondern beschränke dich auf ein Land oder sogar nur auf eine Region. Und mach dort viel mit lokalen Guides.
SZ: Und was machst du in deinen nächsten Ferien?
JAF: Ich reise ins Unterengadin. Meine Geschwister und ich haben dort ein Haus. Einen Stock teilen wir uns und vermieten ihn an Freunde und Bekannte. Ein Stockwerk ist dauervermietet. Und ich habe Heimweh nach Italienreisen. Wenn ich zwei oder drei Monate Zeit hätte, dann würde ich nach Südkorea gehen. Ich finde das Land sehr spannend. Mit K-Pop kann ich zwar nichts anfangen. Aber es gibt so viele innovative Dinge in dem Land, die möglicherweise unsere Zukunft vorwegnehmen. Wobei ich nicht nur als Reisender unterwegs sein möchte, sondern auch beruflich etwas in Südkorea tun möchte