Es ist bald dreissig Jahre her, ich war auf der Rückreise von den Weihnachtsferien in Galizien, in einem Nachtbus mit "Gastarbeitern", die ebenfalls aus den Weihnachtsferien zurück in die Schweiz mussten. Ich war der einzige Tourist an Bord. Mein Nebenmann legte seinen Kopf an meine Schulter und schlief ein. Im Morgengrauen erreichten wir die Schweizer Grenze bei Genf. Unser Bus musste auf die Wartespur und blieb stehen. Es nieselte, und es war kalt. Auf der Nebenspur fuhren die Luxus-Touristenbusse ungehindert an uns vorbei über die Grenze. Einer nach dem andern, während unser Bus dastand.

Die Wut der Wanderarbeiter

Nach einer Stunde oder länger kamen die Grenzwächter und befahlen uns Insassen, auszusteigen und unser Gepäck aus dem Kofferraum zu behändigen. Dann wurden wir in eine Halle mit langen Tischreihen geleitet, und schlecht gelaunte Grenzwächter verlangten, dass wir allen Inhalt unserer Gepäckstücke auf den Tischen ausbreiten. Die Schweizer Beamten machten auf der andern Seite der Tische ihre Kontrollgänge, zupften da und dort an einem Kleidungsstück oder durchwühlten einen Haufen. Der eine hebt plötzlich mit einem Grinsens einen Arm, daran hängt eine grosse Wurst. Diese wird sogleich beschlagnahmt.
Über der Szene hing der Geruch einer ritualisierten Demütigung. Die Wut der Arbeiter war fast mit Händen zu greifen. Doch niemand sagte etwas. Erst als alle wieder im Bus sassen und dieser die Grenze passiert hatte, entlud sich das Schweigen in einer kollektiven Fluchtirade.

Integrierte und erzwungene Mobilität

Die Reisenden von heute können grob in vier Kategorien unterteilt werden: Erstens sind da die globalen Konferenzreisenden aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft auf der Suche nach Status, Profit und Macht, zweitens die Massen von Touristen auf der Suche nach Abenteuern, Genuss und Exotik, drittens das Heer der wenig qualifizierten Wanderarbeiterinnen und -arbeiter auf der Suche nach einem Verdienst, viertens die vielen Millionen vertriebener Flüchtlinge auf der Suche nach einer neuen Existenz.
Für die privilegierten Kasten stellen staatliche Grenzen in der Regel kein ernsthaftes Hindernis dar, während für die Unterprivilegierten die Grenzen zwischen den Ländern des Südens und jenen des Nordens schon längst abgeschottet sind. Und die Vagabunden? Seit dem ausgehenden Mittelalter galt das Vagantentum als Sammelkategorie für alle unfreiwillig oder freiwillig mobilen Lebensformen der unteren Schichten: herrenloses Gesindel, arbeitslose Handwerksburschen, Schaustellerinnen, Komödianten und Musikanten, fahrende Händlerinnen und Hausierer, desertierte Söldner und Soldaten, Heimatlose, Vertriebene, Geächtete und Verstossene, Gauner, Zigeuner, Prostituierte, Bettlerinnen, Strassenräuber, Obdachlose, Tippelbrüder, Stromer, Landfahrerinnen und Landstreicher. Die Vaganten bildeten über Jahrhunderte das gesellschaftlich deklassierte, zwielichtige fahrende Volk in einer von der Norm der Sesshaftigkeit bestimmten bäurischen oder bürgerlichen Gesellschaft.
Doch das Verhältnis von Sesshaftigkeit und Mobilität hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts grundlegend gewandelt. Heute ist nicht mehr die Sesshaftigkeit als solche die gesellschaftliche Norm, sondern nur eine zeitweilige Sesshaftigkeit in Verbindung mit mannigfaltigen Formen der Mobilität: Sesshafte Phasen abwechselnd mit Pendeln, mit häufigen Geschäftsreisen, mit Städtereisen, mit interkontinentalen Ferienreisen, mit Auslandsaufenthalten, mit transnationalen Familienbesuchen und mit vielen Umzügen sind zum typischen Merkmal des mittelständischen Lebens geworden.
Auch Steigerungsformen dieser integrierten Mobilität sind gängig geworden: Manager, Wissenschaftlerinnen, Spitzensportler und Künstlerinnen, die ihren Marktwert oder ihren Status optimieren wollen, sind allzeit bereit, Länder und Kontinente wie ihre Hemden zu wechseln, falls ein entsprechendes Angebot winkt. Ich-AGs zelebrieren Beweglichkeit, indem sie den Laptop-Arbeitsplatz vorübergehend an exotische, touristisch interessante Orte verlegen und je nach Lust oder Mode weiterziehen. Andere "Life-Style-Migranten" wie Rucksacktouristinnen oder Rentnerpaare finden an exotischen Stränden ihre privaten Paradiese oder einen geruhsamen Lebensabend.

Weil es in den westlichen Gesellschaften ein Zeichen der Integration geworden sei, teilmobil zu leben, habe der Vagabund als Symbolfigur für den gesellschaftlichen Ausschluss der ärmsten Bevölkerungsschichten inzwischen ausgedient, sagt der Sozialhistoriker (Oberhuber 2012). Nur als Projektionsfläche des romantischen Blicks sei die Figur des Vagabunden noch bedeutsam, etwa in der Kunstfigur des postmodernen "Nomaden". Für diesen sind alle Grenzen durchlässig, solange er eine passende Nationalität und ein gut gefülltes Bankkonto vorweisen kann.

Früh entzauberte Romantik

Im Film "A nous la liberté" von René Clair von 1931 wird das verklärende Stereotyp des freien Vagabundenlebens auf satirische Weise auseinander genommen. Der Film beginnt damit, dass es sich ein Landstreicher nach Diogenes-Art gut gehen lässt: Er liegt auf einer Wiese, ergötzt sich an den Blumen und blinzelt in die Sonne. Doch da rücken schon zwei Uniformierte an, die ihn ohne Federlesens aufgreifen und ins Gefängnis stecken. Dieses ist nur die Zwischenstation zur Fabrik. Die Analogien von Gefängnis und Fabrik werden mit kinematographischen Mitteln auf verblüffende Weise vorgeführt: Beides sind seriell organisierte Institutionen, welche über präzise räumliche und zeitliche Eingrenzungen funktionieren.
Die Landstreicherei erscheint in diesem Lichte besehen als ohnmächtiger Widerstand gegen die unaufhaltsame Industrialisierung, gegen Arbeitsdisziplin und Ausbeutung. Genau daran knüpft die massenmediale Romantisierung des Vagabundenlebens an: an die Sehnsucht des (klein-)bürgerlichen Publikums nach einem ungebundenen, grenzenlosen Leben. Diesen Zusammenhang hat René Clair souverän inszeniert, indem er am Schluss der turbulenten Komödie den Fabrikbesitzer zum freiwilligen Vagabunden mutieren lässt.

Die zeitgenössischen Vaganten

In der globalen Gesellschaft wird der leere Platz des historischen Vagantentums von den sehr zahlreichen Flüchtlingen eingenommen, allerdings unter veränderten Vorzeichen und ohne Romantik: Während die Vaganten bis ins 20. Jahrhundert hinein ihre mobilen Lebensformen an den Rändern der Gesellschaft aus Not und Eigensinn kultivierten, versuchen die modernen Flüchtlinge verzweifelt, ihrem unwürdigen Status zu entkommen und irgendwo anzukommen in einem halbwegs geregelten Leben mit einem anerkannten Status, mit Grundrechten, mit einer minimalen Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum.
Doch viele Flüchtlinge, die es über alle abweisenden Grenzen bis in die westlichen Gesellschaften geschafft haben, überwinden die Hürde der gesellschaftlichen Integration bekanntlich nicht. Ihr Asylgesuch wird abgelehnt oder in die Sackgasse einer vorläufigen Aufnahme umgeleitet, oder sie versuchen von vornherein, sich unter prekären Arbeitsbedingungen als Sans-Papiers zu verdingen. Sie bilden zusammen mit andern gescheiterten Existenzen, die sich den sozialfürsorgerischen Angeboten entzogen haben, die Schicht der zeitgenössischen Vaganten. Für diese Unterschicht, die gelegentlich auf Gefängnisaufenthalte oder Notunterkünfte "eingegrenzt" wird, sind die Staatsgrenzen zunehmend undurchlässig geworden. Wegen der Befürchtung, sie könnten dem Sozialstaat zur Last fallen, wird ihnen der Zutritt zu den Nachbarstaaten verwehrt, oder sie werden zurückgestellt. So wie es der moderne Bundesstaat bereits mit den "Zigeunern" machte. Für sie galt ab 1888 ein Einreiseverbot, das erst 1972 aufgehoben wurde.

Autostoppen grenzenlos

Damals, in den 1970er-Jahren, machten wir Jugendlichen aus dem "Autostoppen" einen Kult. Wir nannten unsresgleichen "Stöppler" oder "Trämper". Wir standen an gut gewählten Orten und hielten den Daumen raus. Wenn ein Auto anhielt, war das jedes Mal ein kleines Wunder: Der Lauf der Dinge war für einen Augenblick unterbrochen. An seine Stelle trat die Verheissung, die offene Seite der Zukunft. Obwohl in der Geschichte der weltweiten Wanderungsbewegungen nur eine winzige Fussnote, war das Trampen damals prägend für unser Weltbild.
Viele junge Abenteurer und auch einige Abenteurerinnen, nicht wenige aus gutbürgerlichen Familien, machten sich das Trampen zur Lebensform des temporären Ausstiegs aus allen Banden des häuslichen Lebens. Einige Hartgesottene sind weiter gegangen, haben sich nicht nur ferienhalber, sondern ganz ausgeklinkt aus den Sicherheitsseilen, in das freie Leben oder aber den freien Fall. Ich gehörte eher zu den routinierten Ferientrampern: sowohl ein später touristischer Widerschein des Vaganten wie auch eine Frühform des "Life-Style-Migranten". Mein Motto lautete: On the road again! Getrampt wurde meistens alleine. Routen und Reiseziele waren eher zweitrangig. Wichtiger war das Unterwegssein.

Die Staatsgrenzen waren für uns Tramper damals nicht wirklich ein Problem. Ab und zu wurden wir nach Drogen durchsucht oder auf andere Weise schikaniert, doch niemals wurden wir an einer Staatsgrenze definitiv abgewiesen. Die wirklich brisante Grenzüberschreitung war eine soziale: Wir lebten während Wochen und Monaten auf der Strasse, zwar mit einem sozialen Fallschirm, aber auch mit einer radikalen Distanz zum bürgerlichen Leben, das wir mit einem Blick von aussen, von unten, wahrnahmen, gerade auch den Normaltourismus. Befremdet und beinahe empört nahmen wir zur Kenntnis, dass Touristen unterwegs waren, die pro Ferientag durchschnittlich 200 Franken liegen liessen. Das hätte uns für einige Wochen Ferien gereicht. Gegessen haben wir Brot und Käse und etwas Obst. Die gewöhnlichen Übernachtungsplätze waren Sandstrände, Wiesen, Waldränder, Stadtpärke, Hotelgärten und Rohbauten. Das einfache Leben abseits der Konsummaschine war sowohl eine Form der Welterfahrung wie auch des Protests. Es war die Zeit, als ich eines Nachts über das Eingangstor eines neuen St. Galler Supermarkts mit schwarzer Farbe "Konsumterror" hinpinselte.
Die Begegnungen unterwegs waren vielfältig: ein herzensguter Imker und Marktfahrer in der Normandie, eine migrierter Black-Power-Aktivist im Norden von London, all die melancholischen Lastwagenfahrer, einmal sogar steife Angehörige einer Fürstenfamilie auf dem Weg ins heimische Liechtenstein. Immer wieder wurde ich von einfachen Leuten als Ausdruck einer spontanen Gastfreundschaft zum Übernachten eingeladen. Mit all diesen Erfahrungen sind meine eigenen Grenzen durchlässiger geworden.

Kleine und grosse Fluchten

Viele traditionelle Halteplätze der Fahrenden wurden im 20. Jahrhundert in rentable Campingplätze für "vagabundische" Touristen umgewandelt. Der moderne Tourismus ist der Inbegriff für kleine Fluchten ausdem hiesigen Wohlstands- und Sicherheitsgehäuse ins Abenteuer, das nach Stärkegraden gebucht werden kann. Die Staatsgrenzen sind für zahlungskräftige Reisende in der Regel kein Hindernis. Tourismus ist ein gelebter Traum der grenzenlosen Freiheit.
Die freiwillige temporäre Flucht aus den Zwängen des geregelten Alltags steht freilich im schärfsten Kontrast zur erzwungenen und unabänderlichen Flucht vor Krieg, Unterdrückung, Verfolgung sowie Arbeits- und Perspektivenlosigkeit. Auf der Suche nach einem menschenwürdigen Leben müssen die geflüchteten Schattenwesen ihr letztes Hab und Gut veräussern, um die gegen sie abgeschotteten Grenzen überwinden zu können. Wenn Tourist und Flüchtling aufeinandertreffen, wie in der Ägäis, so gibt das einen schrillen Effekt: Leute in Badeanzügen sehen Bootsflüchtlingen zu, wie sie erschöpft die letzten Meter durchs Wasser an den Strand taumeln. Einige dieser Geflüchteten werden es vielleicht in die Schweiz schaffen, wo sie allenfalls in einem abgelegenen ehemaligen Hotel untergebracht werden, das unrentabel geworden ist, weil viele Leute die Strandferien vorziehen.
Die mobile Gesellschaft ist voller seltsamer Doppelbelichtungen, welche unbequeme Wahrheiten sichtbarmachen. Während im Berner Oberland die gutbetuchten Touristinnen und Touristen aus arabischen Ländern als wichtiges Kundensegment umschwärmt und gehätschelt werden, so dass sich gar gestandene SVP-Lokalgrössen gegen ein Verbot des Gesichtsschleiers aussprechen, kommt dieselbe Region ihrem erzkonservativen Ruf nach, wenn es darum geht, über eine Erhöhung des kantonalen Budgets zu Gunsten der Betreuung von unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden abzustimmen: Eine solche Zumutung wird im christlich geprägten Tourismusgebiet mit hoher Mehrheit verworfen und damit die Vorlage auf kantonaler Ebene zu Fall gebracht.

Die grüne Grenze

Meinen ersten "richtigen Vagabundentrip" machte ich als 17-Jähriger zu Fuss, ausgehend vom Waadtländer Jura über die grüne Grenze nach Frankreich und wieder zurück über die grüne Grenze ins Val de Travers. Geschlafen habe ich bei Bauern im Stroh. Damals wusste ich nicht, dass dreissig Jahre vor mir eine mutige junge Frau in derselben Gegend hoch gefährdete jüdische Jugendliche aus dem besetzten Frankreich zu Fuss auf einem alten Schmugglerpfad über die grüne Grenze geschleust hatte. Damals wusste ich überhaupt sehr wenig, und ich war ziemlich glücklich damit. Dreissig Jahre später sass ich im dunklen Wohnzimmer von Anne-Marie Im Hof-Piguet in Köniz, und sie erzählte mir aus ihrem bewegten Leben. Die graue Grenze des Nicht-Wissens zwischen den Generationen war durchlässig geworden.
Baumann, Zygmunt, 2012, Leben in der Diaspora. In: Isolde Charim, Gertrud Auer Borea (Hg.), Lebensmodell Diaspora. Über moderne Nomaden, Bielefeld 2012.
Oberhuber, Florian, 2012, Das Ende des Vagabunden. In: Johanna Rolshofen, Maria Maierhofer (Hg), Das Figurativ der Vagabondage. Bielefeld 2012.   

Über den AutorALEX SUTTER ist Philosoph und Co-Geschäftsleiter des Vereins humanrights.ch (seit 2006), er betrieb ein eigenes Büro "Transkultur" für Weiterbildungen und Projektarbeit (1992-2011). 

Weil es in den westlichen Gesellschaften ein Zeichen der Integration geworden sei, teilmobil zu leben, habe der Vagabund als Symbolfigur für den gesellschaftlichen Ausschluss der ärmsten Bevölkerungsschichten inzwischen ausgedient, sagt der Sozialhistoriker (Oberhuber 2012). Nur als Projektionsfläche des romantischen Blicks sei die Figur des Vagabunden noch bedeutsam, etwa in der Kunstfigur des postmodernen "Nomaden". Für diesen sind alle Grenzen durchlässig, solange er eine passende Nationalität und ein gut gefülltes Bankkonto vorweisen kann.

Früh entzauberte Romantik

Im Film "A nous la liberté" von René Clair von 1931 wird das verklärende Stereotyp des freien Vagabundenlebens auf satirische Weise auseinander genommen. Der Film beginnt damit, dass es sich ein Landstreicher nach Diogenes-Art gut gehen lässt: Er liegt auf einer Wiese, ergötzt sich an den Blumen und blinzelt in die Sonne. Doch da rücken schon zwei Uniformierte an, die ihn ohne Federlesens aufgreifen und ins Gefängnis stecken. Dieses ist nur die Zwischenstation zur Fabrik. Die Analogien von Gefängnis und Fabrik werden mit kinematographischen Mitteln auf verblüffende Weise vorgeführt: Beides sind seriell organisierte Institutionen, welche über präzise räumliche und zeitliche Eingrenzungen funktionieren.
Die Landstreicherei erscheint in diesem Lichte besehen als ohnmächtiger Widerstand gegen die unaufhaltsame Industrialisierung, gegen Arbeitsdisziplin und Ausbeutung. Genau daran knüpft die massenmediale Romantisierung des Vagabundenlebens an: an die Sehnsucht des (klein-)bürgerlichen Publikums nach einem ungebundenen, grenzenlosen Leben. Diesen Zusammenhang hat René Clair souverän inszeniert, indem er am Schluss der turbulenten Komödie den Fabrikbesitzer zum freiwilligen Vagabunden mutieren lässt.

Die zeitgenössischen Vaganten

In der globalen Gesellschaft wird der leere Platz des historischen Vagantentums von den sehr zahlreichen Flüchtlingen eingenommen, allerdings unter veränderten Vorzeichen und ohne Romantik: Während die Vaganten bis ins 20. Jahrhundert hinein ihre mobilen Lebensformen an den Rändern der Gesellschaft aus Not und Eigensinn kultivierten, versuchen die modernen Flüchtlinge verzweifelt, ihrem unwürdigen Status zu entkommen und irgendwo anzukommen in einem halbwegs geregelten Leben mit einem anerkannten Status, mit Grundrechten, mit einer minimalen Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum.
Doch viele Flüchtlinge, die es über alle abweisenden Grenzen bis in die westlichen Gesellschaften geschafft haben, überwinden die Hürde der gesellschaftlichen Integration bekanntlich nicht. Ihr Asylgesuch wird abgelehnt oder in die Sackgasse einer vorläufigen Aufnahme umgeleitet, oder sie versuchen von vornherein, sich unter prekären Arbeitsbedingungen als Sans-Papiers zu verdingen. Sie bilden zusammen mit andern gescheiterten Existenzen, die sich den sozialfürsorgerischen Angeboten entzogen haben, die Schicht der zeitgenössischen Vaganten. Für diese Unterschicht, die gelegentlich auf Gefängnisaufenthalte oder Notunterkünfte "eingegrenzt" wird, sind die Staatsgrenzen zunehmend undurchlässig geworden. Wegen der Befürchtung, sie könnten dem Sozialstaat zur Last fallen, wird ihnen der Zutritt zu den Nachbarstaaten verwehrt, oder sie werden zurückgestellt. So wie es der moderne Bundesstaat bereits mit den "Zigeunern" machte. Für sie galt ab 1888 ein Einreiseverbot, das erst 1972 aufgehoben wurde.

Autostoppen grenzenlos

Damals, in den 1970er-Jahren, machten wir Jugendlichen aus dem "Autostoppen" einen Kult. Wir nannten unsresgleichen "Stöppler" oder "Trämper". Wir standen an gut gewählten Orten und hielten den Daumen raus. Wenn ein Auto anhielt, war das jedes Mal ein kleines Wunder: Der Lauf der Dinge war für einen Augenblick unterbrochen. An seine Stelle trat die Verheissung, die offene Seite der Zukunft. Obwohl in der Geschichte der weltweiten Wanderungsbewegungen nur eine winzige Fussnote, war das Trampen damals prägend für unser Weltbild.
Viele junge Abenteurer und auch einige Abenteurerinnen, nicht wenige aus gutbürgerlichen Familien, machten sich das Trampen zur Lebensform des temporären Ausstiegs aus allen Banden des häuslichen Lebens. Einige Hartgesottene sind weiter gegangen, haben sich nicht nur ferienhalber, sondern ganz ausgeklinkt aus den Sicherheitsseilen, in das freie Leben oder aber den freien Fall. Ich gehörte eher zu den routinierten Ferientrampern: sowohl ein später touristischer Widerschein des Vaganten wie auch eine Frühform des "Life-Style-Migranten". Mein Motto lautete: On the road again! Getrampt wurde meistens alleine. Routen und Reiseziele waren eher zweitrangig. Wichtiger war das Unterwegssein.

Die Staatsgrenzen waren für uns Tramper damals nicht wirklich ein Problem. Ab und zu wurden wir nach Drogen durchsucht oder auf andere Weise schikaniert, doch niemals wurden wir an einer Staatsgrenze definitiv abgewiesen. Die wirklich brisante Grenzüberschreitung war eine soziale: Wir lebten während Wochen und Monaten auf der Strasse, zwar mit einem sozialen Fallschirm, aber auch mit einer radikalen Distanz zum bürgerlichen Leben, das wir mit einem Blick von aussen, von unten, wahrnahmen, gerade auch den Normaltourismus. Befremdet und beinahe empört nahmen wir zur Kenntnis, dass Touristen unterwegs waren, die pro Ferientag durchschnittlich 200 Franken liegen liessen. Das hätte uns für einige Wochen Ferien gereicht. Gegessen haben wir Brot und Käse und etwas Obst. Die gewöhnlichen Übernachtungsplätze waren Sandstrände, Wiesen, Waldränder, Stadtpärke, Hotelgärten und Rohbauten. Das einfache Leben abseits der Konsummaschine war sowohl eine Form der Welterfahrung wie auch des Protests. Es war die Zeit, als ich eines Nachts über das Eingangstor eines neuen St. Galler Supermarkts mit schwarzer Farbe "Konsumterror" hinpinselte.
Die Begegnungen unterwegs waren vielfältig: ein herzensguter Imker und Marktfahrer in der Normandie, eine migrierter Black-Power-Aktivist im Norden von London, all die melancholischen Lastwagenfahrer, einmal sogar steife Angehörige einer Fürstenfamilie auf dem Weg ins heimische Liechtenstein. Immer wieder wurde ich von einfachen Leuten als Ausdruck einer spontanen Gastfreundschaft zum Übernachten eingeladen. Mit all diesen Erfahrungen sind meine eigenen Grenzen durchlässiger geworden.

Kleine und grosse Fluchten

Viele traditionelle Halteplätze der Fahrenden wurden im 20. Jahrhundert in rentable Campingplätze für "vagabundische" Touristen umgewandelt. Der moderne Tourismus ist der Inbegriff für kleine Fluchten ausdem hiesigen Wohlstands- und Sicherheitsgehäuse ins Abenteuer, das nach Stärkegraden gebucht werden kann. Die Staatsgrenzen sind für zahlungskräftige Reisende in der Regel kein Hindernis. Tourismus ist ein gelebter Traum der grenzenlosen Freiheit.
Die freiwillige temporäre Flucht aus den Zwängen des geregelten Alltags steht freilich im schärfsten Kontrast zur erzwungenen und unabänderlichen Flucht vor Krieg, Unterdrückung, Verfolgung sowie Arbeits- und Perspektivenlosigkeit. Auf der Suche nach einem menschenwürdigen Leben müssen die geflüchteten Schattenwesen ihr letztes Hab und Gut veräussern, um die gegen sie abgeschotteten Grenzen überwinden zu können. Wenn Tourist und Flüchtling aufeinandertreffen, wie in der Ägäis, so gibt das einen schrillen Effekt: Leute in Badeanzügen sehen Bootsflüchtlingen zu, wie sie erschöpft die letzten Meter durchs Wasser an den Strand taumeln. Einige dieser Geflüchteten werden es vielleicht in die Schweiz schaffen, wo sie allenfalls in einem abgelegenen ehemaligen Hotel untergebracht werden, das unrentabel geworden ist, weil viele Leute die Strandferien vorziehen.
Die mobile Gesellschaft ist voller seltsamer Doppelbelichtungen, welche unbequeme Wahrheiten sichtbarmachen. Während im Berner Oberland die gutbetuchten Touristinnen und Touristen aus arabischen Ländern als wichtiges Kundensegment umschwärmt und gehätschelt werden, so dass sich gar gestandene SVP-Lokalgrössen gegen ein Verbot des Gesichtsschleiers aussprechen, kommt dieselbe Region ihrem erzkonservativen Ruf nach, wenn es darum geht, über eine Erhöhung des kantonalen Budgets zu Gunsten der Betreuung von unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden abzustimmen: Eine solche Zumutung wird im christlich geprägten Tourismusgebiet mit hoher Mehrheit verworfen und damit die Vorlage auf kantonaler Ebene zu Fall gebracht.

Die grüne Grenze

Meinen ersten "richtigen Vagabundentrip" machte ich als 17-Jähriger zu Fuss, ausgehend vom Waadtländer Jura über die grüne Grenze nach Frankreich und wieder zurück über die grüne Grenze ins Val de Travers. Geschlafen habe ich bei Bauern im Stroh. Damals wusste ich nicht, dass dreissig Jahre vor mir eine mutige junge Frau in derselben Gegend hoch gefährdete jüdische Jugendliche aus dem besetzten Frankreich zu Fuss auf einem alten Schmugglerpfad über die grüne Grenze geschleust hatte. Damals wusste ich überhaupt sehr wenig, und ich war ziemlich glücklich damit. Dreissig Jahre später sass ich im dunklen Wohnzimmer von Anne-Marie Im Hof-Piguet in Köniz, und sie erzählte mir aus ihrem bewegten Leben. Die graue Grenze des Nicht-Wissens zwischen den Generationen war durchlässig geworden.
Baumann, Zygmunt, 2012, Leben in der Diaspora. In: Isolde Charim, Gertrud Auer Borea (Hg.), Lebensmodell Diaspora. Über moderne Nomaden, Bielefeld 2012.
Oberhuber, Florian, 2012, Das Ende des Vagabunden. In: Johanna Rolshofen, Maria Maierhofer (Hg), Das Figurativ der Vagabondage. Bielefeld 2012.   

Über den AutorALEX SUTTER ist Philosoph und Co-Geschäftsleiter des Vereins humanrights.ch (seit 2006), er betrieb ein eigenes Büro "Transkultur" für Weiterbildungen und Projektarbeit (1992-2011).