Lifestyle Reisen. Bleibt, wo ihr seid
Letzten Sommer hatte Samira genug vom Zürcher Alltag. Mit ihrem Partner zusammen buchte sie einen Flug nach Südspanien, Rückflug drei Wochen später ab Casablanca. Die Reisedestination Marokko hatten die beiden schnell gewählt, die Buchung der Flüge dauerte eine Viertelstunde. In Zürich bleiben und gleichwohl Neues sehen und erleben, war keine Option. "Abenteuer 50 Kilometer" kommt selten in Frage, wenn es um einen Kulissenwechsel geht. Ich kenne kaum jemanden, der im geografisch Naheliegenden nach Fremdem, Neuem und Erlebenswertem sucht.
Es ist nicht ungewöhnlich, Leute zu treffen, die noch nie in Süddeutschland, auf der Rigi oder in Braunwald waren, dafür aber mit dem Bus ganz Mexiko durchquert haben. Niemand wird verdächtigt, er wisse nichts mit sich und seiner Umgebung anzufangen, wen er sich auf eine grosse Reise macht. Doch steckt hinter der Fernreiserei nicht viel mehr Phantasielosigkeit als Abenteuergeist? Viel mehr Konsumhaltung als Eigenaktivität? Es ist so einfach im augenfällig Andersartigen: Ohne etwas beitragen zu müssen, wird man mit ständig wechselnden, neuen und farbigen Bildern, fremden Gerüchen, exotischer Lebenslust und spannenden Begegnungen versorgt, jeder Schnappschuss ein Beweis für das grosse Erlebnis der Andersartigkeit. Kurzweilige Unterhaltung ist garantiert. Auf der Suche nach Abwechslung und einem Mittel gegen die innere Langeweile zappt man durch die Welt. Der Konsumcharakter des Reisens verbirgt sich gekonnt hinter allen positiven Zuschreibungen, die es wie ein ewiges Loblied begleiten.
Sie haben Ihre letzte Reise nicht einfach so gemacht, aus Lust und Laune? Sie hatten das grosse Glück, in Mexico City bei einer Bekannten wohnen zu können, die für eine lokale NGO arbeitet? Ja, es wäre schade gewesen, diese einmalige Chance verstreichen zu lassen? Auch Natalie flog nicht einfach so nach Südafrika; ihr wurde die exklusive Teilnahme an einem Austausch mit südafrikanischen StudentInnen angeboten, und Laura wäre, wie sie betont, nicht bis nach Bali geflogen, wenn nicht die Schwester eines guten Schulfreundes da geheiratet hätte. Die "einmaligen Gelegenheiten" spriessen so zahlreich und munter aus dem Boden, wie die Lust am Reisen vorhanden ist. Man ist schon bald erstaunt, wenn jemand von einer Reise erzählt, die keinen Beweggrund dieser Art vorzuweisen hat. Viele geben sich grosse Mühe hervorzuheben, dass sie nicht "einfach so" da oder dorthin fliegen.
Hat sich hier eine verkehrte Logik eingeschlichen? Zeugt das Beteuern des Gelegenheiten-Ergreifens nicht gerade von fehlender Eigenmotivation? Hat sich Nathalie je zuvor für Südafrika interessiert? Woher nun diese Begeisterung für den Ausflug in ein Land, das für sie vorher nie relevant war? Reisen scheint wie Schnäppchen gleich bei der Kasse zu sein – ein Konsumgut, dem kein echtes Bedürfnis zugrunde liegen muss.
Nie auf Augenhöhe
All den einmaligen Chancen, die sich meinen FreundInnen letztes Jahr wieder geboten haben, ist eines gemeinsam: Sie versprechen eine authentische, individuelle und einmalige Reise. Sie bewegen sich nicht in Touristenmassen durch ein fremdes Land, sondern wohnen, essen und reden mit den Menschen, die vor Ort leben. Der All-Inclusive-Reisende kann diese vertieften Kontakte zur lokalen Bevölkerung nicht vorweisen. Stolz und besonders ausführlich erzählt Laura von der balinesischen Grossmutter ihres Schulfreundes, die kein Wort Englisch spricht, zu der sie aber eine tiefe Verbundenheit gespürt habe.
Die Nähe zu Menschen, die im bereisten Land wohnen, gehört zum guten Ton in Reiseerzählungen. Niemand berichtet stolz von Strandferien im Hotelblock am Roten Meer, in denen die Einheimischen nur gelegentlich als Zimmermädchen in Erscheinung treten. Laura aber erzählt gerne, dass der Chauffeur, der sie und ihre Freundin drei Wochen lang durch Indien gefahren hat, ihnen als Zeichen der Freundschaft seine ganze Familie vorstellte. An seinen Namen kann sie sich aber nicht mehr erinnern.
Zu nichts verpflichtet
Als ich in Mali war, waren auch mir die Möglichkeiten des Austausches und des Gespräches mit den Maliern enorm wichtig. Umso hilfloser und trauriger machte es mich zu erleben, wie gegenseitige Zuneigung und momentan geteiltes Erleben die Kluft zwischen den unterschiedlichen Realitäten mehr kaschieren als überwinden. Das zeigt sich nur schon an der Tatsache, dass ich sie besuchen kann, während sie mein Land nie werden sehen können. Mit meinem damaligen Studentenjob-Einkommen war ich reicher, als mein gegenüber es je sein wird.
Natürlich kostet uns das Reisen Geld, und manchmal müssen wir sparen, bevor sich der nächste Reisewunsch erfüllt. Doch wo immer wir hinkommen – möge unsere einzige kurze Hose auch löchrig und schmutzig sein – , wir sind die vermögenden EuropäerInnen, die mit ihrem Pass über jede Grenze gewunken werden. In den Zielländern des Südens sind wir selten auf Augenhöhe mit den Menschen, denen wir auf Reisen begegnen. Müssten wir nicht einmal innehalten und uns fragen, inwiefern sich hinter unserer leichtfertigen Reiserei eine Art Kolonialistenmentalität verbirgt?
Um das Gefälle zwischen Arm und Reich wissen diejenigen natürlich, die immer wieder in die Länder des Südens reisen. Trotzdem werden sie nicht müde, in jeder Erzählung durchblicken zu lassen, dass sei mit ihrer Art des Reisens ganz viele nahezu freundschaftliche Begegnungen mit Einheimischen gehabt hätten. Selten erfahre ich von Mühe mit den unüberwindlichen Gräben zwischen der eigenen und der anderen Lebensperspektive. Doch ist nicht zuletzt die Tatsache, dass kaum einer die Kontakte, die er auf Reisen gemacht hat, weiterpflegt, ein Zeichen für diese tiefen, kaum zu überwindenden Gräben? Spätestens wenn sich der Jetlag im gewohnten Zeitrhythmus aufgelöst hat, scheint die örtliche Distanz die intensiv erlebte Begegnung auch in weite Fernen zu rücken. Es ist zu anstrengend, eine Reisebeziehung – mag sie noch so toll gewesen sein – zu etwas Verbindlichem wachsen zu lassen.
Wenn wir wirklich den Wunsch haben nach Austausch mit Menschen aus fremden Kulturen, warum nicht mit der tamilischen Nachbarsfamilie Tee trinken? Warum scheuen wir die Verbindlichkeiten im eigenen Land mehr als die schnell zu habende Nähe auf Reisen? Lieber fliegen wir nach Sri Lanka. Das lässt sich schöner erzählen, und zudem kommen wir da auch schnell wieder weg.
Nein, die Reiserei, wie ich sie in meinem Umfeld erlebe, hat kaum noch mit Entdeckergeist und Völkerverständigung zu tun. Sondern sie macht die Welt zur schnöden Spielwiese für unsere nächsten Ferien.