Basel, 27.08.2008, akte/ Rwanda war über Jahrzehnte ein Schwerpunktland der Schweizerischen Entwicklungshilfe. In der „Schweiz Afrikas“ mit viel Grün, mit Bergen und Kühen, wurden gute und sinnvolle Projekte verwirklicht. Vielleicht lag es am mangelnden Sprachverständnis, dass die Schweizer Entwicklungshelfer zu spät merkten, wie die herrschende Hutu-Mehrheit die Bevölkerung gegen die Tutsi-Minderheit aufhetzte – über das Radio, welche die Schweizer durch Weiterbildung und Finanzen gefördert hatte. Oder lag es an den freundschaftlichen Kontakten mit den Mitgliedern der Regierungen, alle sehr zuvorkommend und kultiviert, die immer wieder versprachen, sich an die Menschenrechte zu halten? Bis es denn zum wohl organisierten Genozid vom April 1994 kam, bei dem auf barbarische Weise bis zu einer Million Menschen in kürzester Zeit ermordet wurden. Aus der Sicht des fiktiven Entwicklungshelfers David Hohl wird die Mitschuld der Schweizer nachgezeichnet – in ihrer Rechtschaffenheit und Korrektheit. Hohl fängt von seinen Vorgesetzten einer Rüge ein, weil er seiner Hausangestellten, einer Tutsi, ein Stück Garten überlassen hat. Ganz im Sinne des konstruktiven Dialogs will man es sich wegen einer Hausangestellten nicht mit der Regierung verderben. Da nimmt man sogar in Kauf, bei der Unterdrückung der Tutsis mitzumachen. Bärfuss lässt David Hohl eine Anatomie des Bösen erstellen und der Frage der Schuld nachspüren, der eigenen wie der kollektiven. „Unser Glück war immer, dass bei jedem Verbrechen, an dem je ein Schweizer beteiligt war, ein noch grösserer Schurke seine Finger im Spiel hatte, der alle Aufmerksamkeit auf sich zog und hinter dem wir uns verstecken konnten. Nein, wir gehören nicht zu denen, die Blutbäder anrichten. Das tun andere .Wir schwimmen darin. Und wir wissen genau, wie man sich bewegen muss, um obenauf zu bleiben und nicht in der roten Sosse unterzugehen“, so sein bitteres Fazit.
Der rote Faden dieses Romans ist die wild-sinnliche Liebesgeschichte Hohls mit Agathe, in der Hohl seine Lust an der Gewalt entdeckt und sein Wertsystem durcheinander bringt. Hohl bleibt bis zuletzt in Kigali, harrt sogar aus, als die übrigen Entwicklungshelfer sich längst haben repatriieren lassen, und zieht mit den Mördern über die Grenze. Wer im falschen System ist, kann nicht richtig handeln, und im falschen System ist Korrektheit die Tugend, welche dem Verbrechen hilft. So ist schliesslich der einzige, der Tutsis rettet, nämlich seine Geliebte Denise und deren Familie, der inkorrekte Schweizer Missland. In den Worten Hohls: „Dieser ewig geile Bock, dieser Mensch, der sich nicht um sein Ansehen scherte, korrupt war bis auf die Knochen – er ist doch der Einzige von uns allen ,der sein ganzes Vermögen opferte und Leben gerettet hat, und nicht nur eines, dreissig Seelen hat er gerettet, das heisst, neunundzwanzig Seelen und einen Arsch, um genau zu sein.“
Lukas Bärfuss schafft es, über Schuld zu sprechen, ohne einfach zu beschuldigen. Dadurch bringt er Licht in eine Nebel umwölkte Episode der Schweizer Geschichte und Entwicklungszusammenarbeit. Trotz des düsteren Themas ist das Buch ein Lesegenuss: dank der prägnanten Sprache von Bärfuss, aber auch dank vieler heiterer Momente, die er Hohl erleben lässt.
Lukas Bärfuss: Hundert Tage. Wallstein Verlag Göttingen, 2008, 197 Seiten gebunden; SFR, 35.90, Euro 19.90, ISBN 978-3-8353-0271-6