Südafrika ist ein Land der Gegensätze: Einerseits hat es eine geschlechtergerechte Verfassung, die weltweit als vorbildlich gilt. Andererseits ist Südafrika im internationalen Vergleich Spitzenreiter in den Statistiken zu sexueller und häuslicher Gewalt. Vielfach infizieren sich Frauen und Mädchen bei Vergewaltigungen oder in gewaltgeprägten Beziehungen mit dem HI-Virus. Hinzu kommt die wirtschaftliche Abhängigkeit der Frauen von ihren Partnern. Viele Frauen hatten während der Apartheid (1948-1994) keine Chance, zur Schule zu gehen, und werden nach wie vor auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert. Vor allem Ehefrauen, für die Männer einen Brautpreis zahlen, fürchten, von ihren Männern fortgeschickt zu werden, wenn sie die Benutzung von Kondomen fordern. Auch in ausserehelichen Beziehungen hält die Angst vor Gewalt Mädchen und Frauen davon ab, von ihren Partnern geschützten Sex zu verlangen. Zudem sind viele ökonomisch auf ihre Partner angewiesen. So verstärken sich Armut, geschlechtsspezifische Gewalt und HIV/AIDS wechselseitig (Thege 2009)
Das schlägt sich statistisch nieder: Laut offizieller Angaben waren 2008 10,9 Prozent der geamten Bevölkerung HIV-positiv, demgegenüber bezifferte sich der Anteil der HIV-positiven Frauen für die Altersgruppe der 20- bis 34jährigen auf 32,7 Prozent. In den Provinzen, die seit der Apartheid besonders von Armut, Wanderarbeit, aufbrechenden Familienstrukturen und grassierender Gewalt betroffen sind, betrug der Anteil der statistisch erfassten HIV-positiven Schwangeren sogar 37-39 Prozent. Gleichaltrige Männer wiesen eine ofifizielle Rate von 25,8 Prozent auf (Shisana/Rehle et al. 2009). Diese Unterschiede sind nicht mit den realen Infektionsraten gleichzusetzen, denn oft werden nur Schwangere erfasst. Die meisten Männer lassen sich nur auf HIV testen, wenn es medizinisch unbedingt notwendig ist.
Erbe der Apartheid
Die Ablehung der Männer basiert keineswegs nur auf einer eigenwilligen Interpretation von Virilität, sie hat auch historische Gründe. So wurden schwarze Minenarbeiter während der Apartheid immer wieder von weissen Männern auf sehr demütigende Weise in aller Öffentlichkeit auf Geschlechtskrankheiten untersucht. Gleichzeitig war die Gesundheitsversorgung der Minenarbeiter miserabel. Abgesehen von zahlreichen schweren Unfällen in den sehr schlecht abgesicherten Minenschächten, erkrankten Zahllose an Tuberkulose. Dafür kam kein Minenbetreiber auf. Vielmehr wurden die kranken Männer in ihre ländlichen Herkunftsbebiete geschickt, wo ihre Ehefrauen und Töchter sie bis zum Tod pflegten. Häufig infizierten die Kranken ihre Familienmitglieder mit Tuberkulose, die wegen der katastrophalen Gesundheitssituation nicht behandelt wurde. Während der Apartheid wurde der schwarzen Bevölkerung eine medizinische Grundversorgung vorenthalten, während Weissen staatliche Kliniken nach europäischem Standard zur Verfügung standen (Ndinga-Muvumba/Pharoah 2008).
Heute ist das Gesundheitswesen in ein Zweiklassensystem gespalten: Reiche Weisse und die neue schwarze Elite können sich vorbildliche Behandlungen in privaten Kliniken leisten, demgegegenüber ist die schwarze Bevölkerungsmehrheit auf schlecht ausgestattete Gesundheitsstationen angewiesen. Vor allem in ländlichen Gebieten, in denen der Grossteil der verarmten schwarzen Bevlkerung nach wie vor lebt, herrschen Mangelwirtschaft und chronische Überarbeitung der wenigen Ärzte und Krankenschwestern. AIDS hat diese Probleme drastisch verschärft, denn zahllose AIDS-Patienten – mehrheitlich Wanderarbeiter – werden zur Pflege zu ihren ländlichen Herkunfsfamilien gebracht. Den meisten Ehefrauen und Töchtern stehen weder Medikamente noch Schutzmassnahmen wie Handschuhe zur Verfügung, so infizieren sich viele bei der Pflege mit HIV (Amnesty International 2008).
Verfehlte AIDS-Politik
Diese Missstände stehen im Kontrast zu den Geldern, die internationale Geber für HIV/AIDS-Programme in Südafrika investieren. So hat Transparency International nachgewiesen, dass ein Grossteil der Gelder, die verschiedene UN-Organisationen, multi- und bilaterale Geber in den letzten Jahren zur Verfügung gestellt haben, veruntreut oder gar nicht ausgegeben wurden. In Misskreditt gerieten das Gesundheitsministerium, der nationale AIDS-Rat sowie der nationale Dachverband für AIDS-Kranke. Beispielsweise haben die Verantwortlichen für das Gesundheitssystem in der Provinz Mpumalanga trotz der dortigen hohen HIV/AIDS-Rate über zehn Prozent der staatlichen Gelder „angespart“, anstatt sie auszugeben. Auch die Verabreichung anti-retroviraler Medikamente in Kliniken wurde systematisch verschleppt, obwohl das Gesundheitsministerium spätestens seit 2002 durch einen Gerichtsentscheid dazu verpflichtet ist (Schulz-Herzensberg/Reddy 2007). Diese juristische Vorgabe erstritt die Treatment Action Campaign (TAC), ein Netzwerk von AIDS-Aktivistinnen und -Aktivisten, die seit 1998 für das Recht auf Behandlung kämpfen. Dabei berufen sie sich auf das in der südafrikanischen Verfassung verankerte Recht auf Gesundheit. Gegen den erbitterten Widerstand des früheren Präsidenten Thabo Mbeki und seiner Gesundheitsministerin Manto Tshabalala-Msimang setzte TAC auf dem Rechtsweg durch, dass Schwangere Zugang zu anti-retroviralen Medikamenten erhalten sollten, die nachweislich die Übertragung des Virus auf die Föten reduzieren. Dennoch deklarierte die Gesundheitsministerin diese Medikamente als Gifte, statt dessen empfahl sie Knoblauch und Rote Beete. Zudem genehmigte sie dem deutschen Geschäftsmann Matthias Rath fragwürdige Tests mit Vitaminpillen an Township-Bewohnerinnen. Gleichzeitig zogen Mbeki und Tshabalala-Msimang mit populistischer Propaganda gegen Pharma-Konzerne ins Feld und leugneten den Zusammenhang zwischen HIV und AIDS. Auch traditionelle Heiler, die mit eigenen Mixturen gute Geschäfte machten, liess das Gesundheitsministerium gewähren (Nattrass 2007).

HIV/AIDS in Schulen
Die AIDS-Politik prägt nicht nur den Gesundheitssektor, sondern wirkt sich auch auf den Bildungsbereich aus. So orientieren sich LehrerInnen und SchülerInnen an den PolitikerInnen, die den Zusammenhang zwischen HIV und AIDS anzweifeln. Eigentlich sollte im Schulunterricht AIDS-Aufklärung stattfinden, doch viele LehrerInnen stellen keine Verbindung zwischen ausgewählten biologischen Erklärungen und dem Sexualverhalten der SchülerInnen her. Auch die nationalen Vorgaben zur Geschlechtergleichheit im Bildungssystem werden an etlichen Schulen ignoriert. Zahllose Lehrer sehen ihre Autoriät dadurch in Frage gestellt und pochen auf eine patriarchale Ordnung (Morrel/Epstein et al. 2009). Durch sexuellen Missbrauch von Schülerinnen zeigen sie den Schülern, wer im Geschlechterverhältnis das Sagen hat. Nicht selten infizieren und schwängern sie die Mädchen. Damit führen sie sowohl die HIV-Prävention als auch die nationalen Gleichheitsgrundlagen ad absurdum.

Literaturtipps: Amnesty International: I am at the lowest end of all. Rural women livint with HIV face human rights abuses in South Africa. Amnesty International (London 2008); Morrell, RobertZ/Epstein, Debbie et al. (Hrsg.): Towards gender eequality – South African schools during the HIV and AIDS epidemic. (Scotsville 2009); Nattrass, Nicoli: Moral combats- AIDS denialim and the struggle for antiretrivirals in South Africa (Scottsville 2007); Ndinga-Muvumba, Angela/Pharoah, Robyn (Hrsg.): HI/AIDS and society in South Africa (Scottsville 2008); Shisana, O. / Rehle, T., et al.: South AFrican national HIV prevalence, incidence behaviour and communication survey 2008 (Cape Town 2009); Schulz-Herzenberg, Colette / Reddy, Trusha (Hrsg.): A lethal cocktail – Exploring the impact of corruption on HIV/AIDS prevention and treatment efforts in South Africa, Transparency International (Pretoria 2007); Tege, Britta: Women’s agency in intimate partnerships. A case study in rura South African community in the context of the HIV/AIDS pandemic (Saarbrücken 2009)
Rita Schäfer ist freiberufliche Ethnologin. Bücher: Im Schatten der Apartheid (2008), Frauen und Kriege in Afrika (2008); Sie unterrichtet derzeit an der Universität Bochum. Der Beitrag erschien in Frauensolidarität Nr. 111/ 1/2010. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung
Bilder:
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