Mahi Binebine: Kannibalen. Roman
(Aus dem Französischen von Patricia A. Hladschik.)
Haymon Verlag, Innsbruck 2003
153 S., Fr 29,70
ISBN 3-85218-414-2
Ein Schlepper und seine Kunden warten an einem nächtlichen, nordafrikanischen Strand. Es sind fünf Männer und eine Frau mit ihrem Baby. Sie warten auf das Boot, das sie über die Strasse von Gibraltar nach Europa bringen soll. Die Dunkelheit, die Kälte und die Müdigkeit nähren die Angst. Als das Baby zu schreien beginnt, wächst die Spannung. Schliesslich schlägt Jarsê vor, das Kind unter das umgedrehte Boot zu legen. Nach einigem Zögern legt sich die Mutter mit ihrem Kind darunter – und das Wunder geschieht: Es ist nichts mehr zu hören.
Zehn Stunden später warten sie immer noch. Die Männer holen ihren Proviant hervor. Nur die Unerfahrenen haben nichts eingepackt, da sie mit einem Festessen in Spanien gerechnet hatten. Die Erinnerung an die Erzählungen des Cafébetreibers Morad, bei dem sie den Vorabend verbracht hatten, wird lebendig. Wie hatte er doch von der Nahrung von jenseits des Meeres geschwärmt!
Und er musste es wissen, hatte er doch zehn Jahre in Paris gelebt. Hatte in einem piekfeinen Restaurant gearbeitet: Chez Albert, Portugiesische Spezialitäten. Im Hinterhof lag Morads Wohnung, mit jeglichem Komfort ausgestattet verfügte sie über „ein kuscheliges Bett, einen Kasten aus rotem Kiefernholz, einen Farbfernseher, einen Gaskocher, der auf dem Kühlschrank stand, ein Keramikwaschbecken, eine Dusche“. Und das auf einer Grundfläche von sechs Quadratmetern, die Decke rissig, die Fenster halb blind. Morad hatte als Tellerwäscher begonnen, elf Stunden täglich, aber er klagte nicht. Er hoffte, eines Tages im Saal als Kellner arbeiten zu dürfen. Nach Dienstschluss bummelte er manchmal durch die hell erleuchteten Strassen und betrachtete die Schaufenster, die Kinoplakate, zündete eine Zigarette an und bewunderte die blonden Wesen, die der Rolltreppe der Metro entstiegen.
Ein feuchter Wind holt den Ich-Erzähler in die Realität zurück. Der Hunger ist inzwischen noch grösser geworden. Ein Gefährte schenkt ihm und seinem Cousin Reda ein paar Orangen. Diese Geste beschwört neue Erinnerungen an die eigene Kindheit herauf.
So werden die kleinen Begebenheiten beim Warten zu Anstössen, die Geschichten der Auswanderer zu erzählen. Da ist der Ich-Erzähler, der mit seinem Cousing Reda und dessen Zwillingsbruder in einem marokkanischen Dorf aufgewachsen war. Die Zwillinge hatten eines Tages im Versuch, die Hühner im Hof ihrer Mutter zum Schlafen zu bringen, alle getötet. Welch ein Unglück!
Die junge Frau mit ihrem Kind will zu ihrem Mann nach Frankreich. Seit einem Jahr hat sie keine Nachricht mehr von ihm. Sonst war er regelmässig einmal im Jahr zurückgekommen, die Koffer voll Geschenke für die ganze Familie. Es musste ihm ein Unglück zugestossen sein!
So reiht sich eine Geschichte an die andere.
Der 1959 in Marrakesch geborene, marokkanische Autor ist nicht nur ein bekannter Autor seines Heimatlandes, auch seine Bilder werden weltweit ausgestellt und beachtet. Das Malerische findet auch Eingang in seine Literatur: Ganz aus der Sicht, aus dem Denken und in der Sprache der Ausreisewilligen erzählt, lässt das Buch das lange Warten am Strand, die Ängste und Hoffnungen der Menschen lebendig werden, die ihrem Land und ihrem Schicksal den Rücken kehren, die in Europa einen Neuanfang wagen wollen. Ein Buch, das uns hinter die Agenturmeldungen über Flüchtlingsdramen und die Asylstatisken schauen lässt, das die trockenen Zahlen mit Leben füllt, das die eindrücklichen Lebensbilder der Protagonisten mit Witz und Sinn für Situationskomik erzählt. Vergnüglich, spannend und hintergründig.
Ruth Macauley
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