Basel, 19.02.2009, akte/ Hoch schlagen heute jeweils die Wellen der Empörung, wenn aus fernen Ländern skandalöse Fälle von Kinderarbeit und -handel vermeldet werden. Es ist aber noch gar nicht gar nicht so lange her, da waren auch in der Schweiz zahlreiche Kinder schutzlos der ausbeuterischen Arbeit preisgegeben: Im 19. und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wurden in der Schweiz Hunderttausende von Kindern fremdplatziert, weil ihre Familien aus Armut und bitterer Not nicht für sie aufkommen konnten, weil die Kinder unehelich oder verwaist waren oder ihre Eltern gesellschaftlich besonders geächteten Gruppen angehörten wie etwa den Jenischen. Viele dieser Kinder wurden "verdingt", meist in ländlichen Gegenden gegen ein Kostgeld auf Bauernhöfe abgegeben, wo sie für ihren eigenen Lebensunterhalt aufkommen mussten. In Bauerfamilien mussten auch die eigenen Kinder mit anpacken, aber die Stellung der Verdingkinder war unvergleichbar viel prekärer. Als kleine Mägde und Knechte hatten sie oft von morgens früh bis abends spät härteste Arbeiten zu verrichten, ihre Schulbildung kam zu kurz. Herausgerissen aus ihrem bekannten Umfeld litten sie unter Isolation und mangelnder Zuwendung, oft genug auch unter schlimmster Erniedrigung und gewalttätiger Misshandlung, Schlägen und sexueller Ausbeutung. In der Regel wusste das Dorf darum, auch die Lehrkräfte und die Kirche, nicht zu reden von den Ämtern, welche die Fremdplatzierung veranlasst oder mitorganisiert hatten. Doch erst 1978 – kaum dreissig Jahre her – lieferte die Einführung des neuen Kinderrechtes im Zivilgesetz die Grundlage, um die Pflegekinderaufsicht auf gesamtschweizerischer Ebene neu zu regeln und damit Pflege- und Verdingkinder endlich besser zu schützen. Dabei scheint die Umsetzung noch immer lückenhaft, ist doch bis heute nicht bekannt, wie viele fremdplatzierte Kinder in der Schweiz leben.

Zu Beginn dieses Jahrtausends erst weckte dieses dunkle Kapitel der Schweizer Sozialgeschichte das Interesse einer breiteren Öffentlichkeit. Im Rahmen eines Nationalfondsprojekts unter der Leitung der Professoren Ueli Mäder und Heiko Haumann wurden von 2005 bis 2007 die mündlichen Lebensberichte von über 270 ehemaligen Verding- und Heimkindern gesammelt. Eine Auswahl aus diesen Gesprächen ist im vorliegenden Buch des Rotpunktverlages wiedergegeben. Die 40 eindrücklichen Lebensberichte werden ergänzt durch Hintergrundtexte von Historikerinnen und Sozialwissenschaftlern, welche die geschilderten Erfahrungen hilfreich in grössere thematische Zusammenhänge stellen, sowie rund 30 Fotografien aus den 40er Jahren des Pressefotografen Paul Senn (1901-1953).
Marco Leuenberger, Loretta Seglias (Hrsg.): Versorgt und vergessen. Ehemalige Verdingkinder erzählen; Rotpunkt Zürich 2008, 319 Seiten, SFr. 38.-; Euro 24.-; ISBN-13: 978-3-85869-382-2